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12. Juni 2015

#17 Vom Leibarzt zum Gemeindearzt


Den Besuch bei einem an einer Universität ausgebildeten Arzt konnten sich in Zeiten ohne Krankenkasse nur wenige leisten. Herrscher und Adelige hatten ihre Leibärzte. Frei praktizierende Ärzte fanden eine zahlungskräftige Klientel in den größeren Städten. 

Bestallungsbrief für einen Stadtphysikus
Waidhofen an der Ybbs, um 1660
(© Waidhofen an der Ybbs, Stadtarchiv)
Unter dem Eindruck der permanent drohenden Seuchengefahr kam es ab dem 16. Jahrhundert zu ersten durchgreifenden Neuerungen in der Organisation des Gesundheitswesens. 1577 verlangten die Niederösterreichischen Landstände – ein Organ, vergleichbar dem heutigen Landtag – die Anstellung eines Medicus als Landschaftsarzt, der sie in Sachen Gesundheitswesen beraten sollte. In der Folge wurden sie an der Wiener Universität vorstellig und baten um Vorschläge für einen geeigneten Arzt.

1584 wurden diesem Landschaftsarzt die Viertelsärzte unterstellt: in Melk für das Viertel ober dem Wienerwald, in Wiener Neustadt für das Viertel unter dem Wienerwald, in Waidhofen an der Thaya für das Viertel ober dem Manhartsberg und in Mistelbach für das Viertel unter dem Manhartsberg. Ihr jährlicher Sold betrug 200 Gulden. Dem Viertelmedicus unterstanden die in der Region praktizierenden Ärzte, die Bader, Wundärzte, Chirurgen,  Apotheker und Hebammen des jeweiligen Viertels, die er zu überwachen hatte. Weiters hatte er dafür zu sorgen, dass die Verordnungen zur Seuchenbekämpfung eingehalten wurden und alle anderen Sanitätsmaßnahmen; dazu zählten auch die tierärztlichen Belange.  Die Viertelärzte selbst mussten ihre PatientInnen kostenlos behandeln. Diese hatten nur für die Kosten der Medikamente und für allfällig anfallende Reisekosten aufzukommen. Daneben gab es aber auch in manchen Gegenden bereits fortschrittliche Grundherren, die Ärzte für die Betreuung ihrer Untertanen beschäftigten, so etwa die Liechtensteiner in Mistelbach.

Bestallungsbrief für einen Stadtphysikus
Waidhofen an der Ybbs, um 1660
(© Waidhofen an der Ybbs, Stadtarchiv)

Eine durchgreifende Neuorganisation des Sanitätswesens veranlasste Kaiserin Maria Theresia. Federführend war ihr Leibarzt, der Niederländer Gerard van Swieten. Zunächst wurde 1753  eine „Medizinalordnung“ publiziert, die die Berufspflichten der Ärzte und Apotheker regelte. Das Hauptwerk war dann das von der Sanitätshofdeputation erarbeitete und am 2. Jänner 1770 publizierte „Sanitätshauptnormativ“, das am 10. April 1773 noch durch eine Erläuterung und Zusätzen ergänzt wurde – „zu jedermanns leichterem Begriff“. Die ersten vier Paragraphen regeln die Organisation des Sanitätswesens: In jedem Erbland, so auch in Niederösterreich, wurde eine „Sanitäts-Commission“ eingerichtet, die der jeweiligen Landesregierung unterstellt war. Ihr Vertreter vor Ort war der Kreishauptmann oder Vorsteher in den Kreisen und Distrikten. Sie hatten über die Zustände zu berichten und darauf zu achten, dass alle Verordnungen von den mit Sanitätsangelegenheiten befassten Personen auch eingehalten wurden.

Die folgenden Paragraphen legen Aufgabe und Pflichten der Medici fest. Die nach behördlicher Ordnung aufgenommenen und bestätigten Land- und Stadt-Physici hatten in ihren Bezirken dafür zu sorgen, dass Chirurgen, Bader, Apotheker und Hebammen ihrer Arbeit korrekt nachkamen. Sie mussten jährlich ohne Vorankündigung alle Apotheken in ihrem Bezirk kontrollieren und hatten darauf zu achten, dass keine Marktschreier, Quacksalber, Landstreicher oder andere unbefugt Kranke betreuten und Arzneien verkauften. Abschnitt 7 beschäftigt sich mit dem sittlichen Verhalten der Medici: „Sie haben ihr Amt bey Reichen, und Armen mit gleichen Eifer zu pflegen, dem Kranken mit Liebe zu begegnen, vorzüglich aber auf sein Seelenheil Sorge zu tragen …“. Und er regelt ihre Arbeitszeit: Ohne Erlaubnis dürfen sie sich nachts nicht von ihrer Wirkungsstätte entfernen. Der erste Teil des Sanitätshauptnormativ schließt mit der Eidesformel für die Medici.

Sanitätshauptnormativ
Wien, 2. Jänner 1770
Stift Altenburg, Archiv
(© Elisabeth Vavra)
Der zweite Teil des Hauptnormativs umfasst die Instruktion für die Wund-Ärzte und Bader. Die Abschnitte 13 bis 16 regeln die Ausbildung und Organisation der Wundärzte (Chirurgen): „Zu diesem Ziel und Ende sollen: Ordentliche Gremia, oder die sogenannte Lade der Wundärzte, in jedem Kreise oder Viertel des Landes, wo noch keine dergleichen sind, durch Unsere Landesstelle mit Zuziehung des Landes-Proto-Medici errichtet werden, bey welchen alle Wundärzte des Kreises einverleibt seyn müssen und bey welchen auch die Lehrjungen gehörig aufgedungen und nach verflossener Lehrzeit freygesprochen und mit einem Lehrbriefe versehen werden.“ Jedem Wundarzt wurde ein bestimmtes Gebiet zur Betreuung zugewiesen. Jeder Vorsteher eines chirurgischen Gremiums war verpflichtet, jedes halbe Jahr dem Landschaftsprotomedicus bei einer Geldstrafe von 12 Reichstaler, Bericht zu erstatten. Finanziert wurden die Gremien durch die Aufnahmegebühren neuer Mitglieder, den Mitgliedsbeiträgen und Prüfungstaxen. Diese Beträge wurden nicht nur für die Anschaffung von Instrumenten und Büchern, sondern auch zur Hilfe für in Schwierigkeiten geratene Mitglieder sowie zur Unterstützung von Witwen und Waisen verstorbener Mitglieder verwendet.


Ärztlicher Betreuungsvertrag für Dr. Holzgärtner
Fürst Karl Khevenhüller-Metsch, Schloss Starein,
20.04.1804, Retz, Stadtarchiv (© Elisabeth Vavra)

Unter Kaiser Franz Josef wurde am 30. April 1870 das Reichssanitätsgesetz verabschiedet. Damit wurde eine neue einheitliche, von oben gelenkte Sanitätsverwaltung eingerichtet. Es gab nun auf vier Ebenen Sanitätsorgane bei den politischen Behörden: den obersten Sanitätsrat mit dem Referenten für Sanitätsangelegenheiten im Ministerium des Inneren; die Landessanitätsräte, die Landessanitätsreferenten bei den politischen Landesbehörden; die landesfürstlichen Bezirksärzte bei den Bezirkshauptmannschaften; bei Städten mit eigenen Gemeindestatuten die von den Gemeindevertretungen angestellten Sanitätsorgane. In Folge des Reichssanitätsgesetzes von 1870 wurde ein Landessanitätsrat für das Erzherzogtum Österreich unter der Enns als beratendes und begutachtendes Organ für die dem Landeschef obliegenden  Sanitätsangelegenheiten des Landes errichtet. Auch die Sanitätsbezirke in Niederösterreich wurden neu geordnet. Diese nach dem Amtssitzen der Bezirksärzte benannten Sanitätsbezirke waren 1871: Amstetten, Bruck an der Leitha (für Bruck an der Leitha und Baden), Hernals, Oberhollabrunn (für Oberhollabrunn und Horn), Korneuburg (für Korneuburg und Großenzersdorf), Krems, Mistelbach, Wiener Neustadt (für Wiener Neustadt und Neunkirchen), St. Pölten (für St. Pölten und Lilienfeld), Scheibbs, Sechshaus, Waidhofen an der Thaya und Zwettl.     

Ordinationsschild Dr. Mathias Weisswasser
Retz, Museum im Bürgerspital (© Peter Böttcher)
Das Reichssanitätsgesetz enthielt nur grundsätzliche Bestimmungen. Die Länder waren angehalten, Durchführungsbestimmungen zu erlassen. In Niederösterreich geschah dies erst  1884 mit dem Landesgesetzblatt Nr. 9 eine Interpretation: „Jeder Gemeinde ist die Verpflichtung auferlegt dahin zu wirken, daß sich in ihrer Mitte die erforderliche Anzahl von Ärzten und Hebammen ansässig mache. Insofern es kleinen Gemeinden nicht möglich ist, zu diesem Zwecke die erforderlichen Mittel aufzubringen, wird es geboten sein, daß mehrere benachbarte Gemeinden für die Ansässigmachung von Ärzten und Hebammen gemeinschaftlich Sorge tragen und, wenn nötig, durch gemeinsam zu bestreitende Entlohnungen sich die erforderliche Hilfe sichern.“ Die Pflichten der Gemeindeärzte umfassten alle medizinischen, hygienischen und sanitätspolizeilichen Belange im weitesten Sinne. Ihre Lage war aber kläglich. Das Gebiet, das sie zu betreuen hatten, war meist groß. Sie hatten kaum ein Einkommen, dass es ihnen erlaubte, sich ein Pferd und einen Wagen zu halten. Denn die Gemeinden zahlten schlecht. Vom Honorar zogen die Gemeinden gleich wieder einen Teil für die Miete der Praxisräume ein. Es gab weder Kündigungsschutz noch Pensionen. Eine Anstellung als Gemeindearzt war daher wenig erstrebenswert.
Ländliche Gebiete blieben weit ins 20. Jahrhundert hinein medizinisch unterversorgt.

Quelle:
Berthold Weinrich unter Mitarbeit von Erwin Plöckinger, Niederösterreichische Ärztechronik. Geschichte der Medizin und der Mediziner Niederösterreichs. 1990.

Text: Prof. Dr. Elisabeth Vavra

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