Profil

Mein Bild
Kulturbezirk 5, 3100 St. Pölten, Niederösterreich, Austria
Seit 2011 gibt es den Museumsblog. Bis 31. Juli 2016 waren es Themen, die im Zusammenhang mit den drei Kernbereichen des Landesmuseum Niederösterreich (Geschichte - Kunst - Natur) standen. Mit 1. August 2016 wird das Landesmuseum zum Museum Niederösterreich und somit ist der Museumsblog unter neuer Adresse zu finden: www.museumnoe.at/de/das-museum/blog

Bader, Medicus, Primar



Im Rahmen der Geschichte-Sonderausstellung "Bader, Medicus, Primar - Gesundheitswesen in Niederösterreich" (http://www.landesmuseum.net/de/ausstellungen/sonderausstellungen/bader-medicus-primar) stellen wir wöchentlich einen interessanten Beitrag zum Thema vor. 


#22 Zur Ader gelassen …

Bis ins 19. Jahrhundert hinein galt Aderlass als das Allerheilmittel: Man wendete ihn bei jedem erdenklichen Krankheitsfall an. Grund dafür war die bis ins 19. Jahrhundert hinein in der Medizin dominierende Viersäftelehre. Die bereits in der Antike entwickelte Theorie erklärte die Körpervorgänge durch das Zusammenspiel der vier Kardinalsäfte des Körpers – Blut, schwarze und gelbe Galle, Schleim. Geraten diese Körpersäfte aus dem Gleichgewicht, entstehen Krankheiten. Um die Krankheit zu bekämpfen, muss das Gleichgewicht zwischen den Säften wieder hergestellt werden. Eine wichtige Rolle spielt dabei das Blut, das seit Galenos (geb. 129 oder 131 in Pergamon, gest. um 199, 201 oder 215 in Rom) als der dominante Saft galt, den man daher besonders kontrollieren musste.
Der Aderlass beim Barbier Holland, Mitte 18. Jh.
Wien, Privatbesitz
Aderlass galt auch als probates Mittel zur Erhaltung der Gesundheit; er war fixer Bestandteil der „Frühjahrskuren“,  bei Epidemien wurde er zur Steigerung der Abwehrkräfte eingesetzt. Selbst in den Klöstern war der Aderlass Teil des streng reglementierten Jahresablaufs: Einige der für das Mittelalter überlieferten Klosterregeln schränken die Zahl der Aderlässe pro Jahr auf vier bis sechs ein. Quellenuntersuchungen zeigen, dass es sich hier um eine Norm handelte, die in der Praxis unterschritten wurde: So unterzog man sich etwa im Stift Klosterneuburg während des Mittelalters nur zwei- bis dreimal im Jahr dieser Prophylaxe.

Aderlassmann Hans von Gersdorff,
Feldbuch der Wundartzney, 1517

Die medizinischen Lehrbücher liefern genaue Angaben darüber, an welcher Stelle des Körpers zur Ader gelassen werden sollte. Man stellte Beziehungen zwischen Adern und den jeweiligen Körperteilen her: Bei Gicht empfahl man z. B. die Vena basilica und die Vena saphena magna an beiden Füßen, bei Wassersucht die „Leberader“ des rechten Armes usw. Beim Aderlassen sollte man die Konstitution und das Alter des Kranken berücksichtigen. Weiter war es wichtig, den richtigen Zeitpunkt zu wählen: Tage das Voll- und Neumondes sollte man meiden, so der deutsche Wundarzt Hans von Gersdorff (geb. um 1455, gest. 1529). Die besten Tage im Jahr waren zu Martin, Blasius, Philippus und Bartholomäus. Im Frühling und Sommer sollte man Adern auf der rechten Seite, im Herbst und Winter auf der linken Seite wählen. An bestimmten Tagen sollte man keinesfalls zur Ader lassen: Hans von Gersdorff führte dreizehn solcher Tage an; wurde man an diesen zur Ader gelassen, so führte dies zum Tod oder zumindest zu schwerer Krankheit. Auch die Sternzeichen hatten Einfluss auf den menschlichen Körper und seine Erkrankungen: das Sternzeichen des Widders war gefährlich für das Haupt, der Stier für Augen, Hals und Gurgel, die Zwillinge für Schultern und Hände, der Krebs für Brust und Lunge, der Löwe für den Magen, die Jungfrau für die Leber, die Eingeweide und den Bauch, die Waage für die Nieren und die Blase, der Skorpion für die „heimlichen Glieder“ usw. Solche Angaben waren auch fixer Bestandteil der seit Erfindung des Buchdrucks in großer Zahl erscheinenden Kalender; manche Druckereien brachten eigene „Aderlasskalender“ oder sog. „Aderlassmännlein“ auf den Markt.

Der bereits bekannte Kardinal Ernst Adalbert von Harrach bevorzugte für den vorbeugenden Aderlass die Monate Mai und Juni: „Der cardinal hatt heint sein früelings aderlaß verrichtet, und ist Gott lob gar woll abgangen, …“ (Pfütsch, S. 36). Der Aderlass war für den Kardinal ein wichtiges Mittel der Vorbeugung, aber nicht nur für ihn. Zum 7. Mai 1645 vermerkte er in seinen Tagzetteln: „Es gehet jetzundt das purgiren und aderlaßen haufenweiß nach der rey herumb, und ist woll vonnöten das sich die leüth zeitlich vorsehen damit sie nicht khranckh werden, dan man stirbt jetzt gar zu geschwindt dahin, wie dan heint der jung von Khuefstain an einer hizigen khranckheit auch darauf gangen ist …“ (Ebd.).

Aderlassschnepper, Museum Retz im Bürgerspital
Foto: Peter Boettcher
Fühlte man sich nicht wohl, befürchtete man den Ausbruch einer Krankheit, so setzte man den Aderlass ein in der Hoffnung, die Selbstheilungskräfte des Körpers anzuregen; so berichtet der Kardinal: „Herr Ott Fridrich hatt wider nicht guetts geschlafen. Heint frühe darauf, weill es ihme neülich sowoll bekhommen, hatt man ihme wider auf den füeßen ader gelaßen, doch wenig linderung gespühret, weill ihm umb 4 der schmerzen wider so starckh angetastet, das er darüber ohnmächtig worden, bei allem deme bleibet die pulß unndt der harm immerzue schier auf den formb wie ihn ein gesunder haben khan: Also das wier unß nicht darein zurichten wißen…“ (Pfütsch, S. 37).
Vorgenommen wurde der Aderlass vom Bader oder vom Arzt. Im Gegensatz zum Schröpfen, dem man sich meist in der Badstube unterzog, kam beim Aderlass der Bader oder Arzt in das Privathaus. Er brachte die notwendigen Instrumente mit: eine Binde, zum Stauen des Blutes; den Schnepper oder ein Messerchen zum Anritzen der Vene; ein Becken, zum Auffangen und Messen des abgezapften Blutes etc. Die Angaben, über die Menge des abgegebenen Blutes variieren in den Quellen stark: man erwähnt kleine Mengen wie „sechs Eßlöffel vol bluts“, aber auch ein Quart, ca. 1,5 Liter. Der Patient/die Patientin zog sich für die Therapie in einen ruhigen, abgedunkelten, nur mit Kerzen erhellten  Raum zurück. Im Anschluss an die Prozedur, die bisweilen auch zu Ohnmachtsanfällen führte, verabreichte man dem Patienten/der Patientin eine Mahlzeit zur Stärkung. Handelte es sich um einen prophylaktischen Aderlass, so wurden oft auch kleinere Gaben – als Trost oder aus Bewunderung?– geschenkt.

Kardinal Ernst Adalbert von Harrach überreichte etwa bei einer Einladung zu einem Aderlass-Mahl den Patienten geschliffene Gläser: „Der obriste burggraf und graf von Wirmb seint heint frühe aderlaßer gewesen, der cardinall und herr Carll von Scherfenberg haben ihnen darzue beim eßen gesellschaft gelaistet, und hatt der cardinal einem jeden auß ihnen ein geschnittenes glaß in die aderlaß geschenkhet, deß burgrafen seines mit blüemblein gezieret, und deßen von Wirmb seines mitt alcorzas und dergleichen süeßen wahren, der er gern ißet, umbleget…“(Pfütsch, S. 38).
Aderlassschnepper Museum Retz im Bürgerspital
Foto: Peter Böttcher

Die Quellen zeigen auch deutlich, dass der vorbeugende Aderlass in der frühen Neuzeit ein gesellschaftliches Ereignis darstellte; wie heute bei „Botox-Partys“ versammelten sich mehrere Personen – Frauen und Männer – in einem Privathaushalt, um den Aderlass zu praktizieren: „Wier haben heint 3 aderlaßer im Hauß gehabt, den cardinall, die herzogin, und die freylle Christina, und hatt jedes seinen besonderen balbierer gebraucht, welche ihr ambt alle gar woll verrichtet...“ (Pfütsch, S. 38).  


Quellen:
Robert Jütte, Ärzte, Heiler und Patienten. Medizinischer Alltag in der frühen Neuzeit. München-Zürich 1991.
Robert Jütte, Norm und Praxis in der ‚medikalen Kultur‘ des Mittelalters und der frühen Neuzeit am Beispiel des Aderlasses, in: Norm und Praxis im Alltag des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Wien 1997, S. 97-106.
Pierre Pfütsch, Aderlass, Purgation und Maulbeersaft. Gesundheit und Krankheit bei Ernst Adalbert von Harrach (1598¬–1667) (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 57). Innsbruck-Wien-Bozen 2013. 

Text: Prof. Dr. Elisabeth Vavra

#21 Der andere Weg den Körper zu entgiften …


Spätestens dann, wenn die Bikinizeit in greifbare Nähe rückt, füllen sich die Zeitschriften mit den neuesten Vorschlägen zum Entschlacken und Entgiften des Körpers. Daneben flammt immer wieder eine Diskussion darüber auf, ob Entschlacken eine sinnvolle Gesundheitsmaßnahme ist oder bloß aufgelegter Blödsinn. Die gängigsten Mittel heute sind Pflaster, Einläufe, Abführmittel, Fasten- oder Saftkuren etc.

„Entgiften des Körpers" stellt nicht erst seit heute einen Versuch dar, die Gesundheit des Körpers zu erhalten oder wiederherstellen. „Purgation" war bereits in der Vergangenheit ein Thema. Schon die alten Ägypter setzten dafür Klistiere ein. Sie glaubten, dass die regelmäßige Säuberung des Darmes der Gesundheit förderlich sei. Ein altägyptischer medizinischer Papyrus aus der 19. Dynastie (circa 1250 v. Chr.) überliefert die ältesten Rezepturen dafür.

Retz, Klistierspritze
Der griechische Arzt Hippokrates von Kos (460-377 v. Chr.) verwendete Klistiere bei Magen-Darm-Erkrankungen und bei Verstopfung. Sie sollten durch die Ableitung der krankmachenden Säfte, die sich im Darm gesammelt hatten, das Gleichgewicht der Körpersäfte wiederherstellen.

Neben Abführmitteln wurden auch Brechmittel zur Reinigung des Körpers eingesetzt. Auch das „Tacuinum sanitatis", eine der wichtigsten Gesundheitslehren des Mittelalters, in den deutschsprachigen spätmittelalterlichen Übersetzungen „Schachtafeln der Gesundheit" genannt, empfiehlt das „Vomitus" – das Erbrechen – als gesundheitsfördernde Maßnahme; dort heißt es – hier die Übersetzung aus dem Lateinischen:

Erbrechen:
Seine Natur: es reinigt den Magen von Materien, die dem Wege der Speisen entgegen sind.
Vorzuziehen: wenn es leicht kommt, bei Menschen mit breiter Brust.
Nutzen: gut für einen überfüllten Magen und für die oberen Teile des Körpers. […]
Besonders zuträglich für Phlegmatiker, Geschwächte, Greise, mitten im Sommer, in warmen Gegenden."

In der frühen Neuzeit galt das Klistier als wahres Allheilmittel, besonders in Frankreich. Das demonstriert auch die Eingangsszene in Molières Theaterstück „Der eingebildete Kranke", in der die Titelfigur Argan die Rechnung seines Apothekers überprüft; unter den zahllosen Posten finden sich zahlreiche Beträge für Klistiere, so z.B.

Item, von selbigem dato, ein gutes purifizierendes Klistier, nach Vorschrift zusammengestellt aus doppeltem Katholikon, Rhabarber, Rosenhonig und andern Ingredienzen, um Herrn Argans Unterleib auszufegen, zu spülen und zu reinigen, dreißig Sous."

Mistelbach-Rudtorffer-Tabulae Armamentarii Chirurgici Selecti Tafel
– weiters:Item, den fünfundzwanzigsten, eine gute reinigende und stärkende Mixtur, bestehend aus frischer Quassia nebst levantinischen Sennesblättern und andern Ingredienzen nach der Verordnung des Herrn Dr. Purgon, um Herrn Argan die Galle auszuscheiden und zu vertreiben, vier Livres." usw.

Bisweilen wurden Klistiere so exzessiv eingesetzt, dass sie zum Tod führten, wie Prozessakten gegen Mediziner belegen. Zehn bis zwölf Stuhlentleerungen in rascher Folge stellen schon für den gesunden Körper eine Herausforderung dar, für einen kranken geschwächten Körper waren sie ein Todesurteil.

Neben Klistieren wurden auch Brechmittel eingesetzt, die von manchen Patienten bevorzugt wurden. So schätzte auch Kardinal Ernst Adalbert von Harrach (1598–1667) Brechmittel mehr, wie er in seinen Tagzetteln festhielt:

Ich habe heindt meine purgation eingenohmmen ein schändliches bitteres tranckh, welches aber sonsten woll operirt, also das ich mich in den füeßen schon etwas ringer befinde, hoffe der überrest im kreütz und armben solle auch baldt vergehen." (Pfütsch, S. 39)


Purgieren war ein Allheilmittel, wie die Tagzettel zeigen. Es war wichtiger Bestandteil der Frühlingskur, der sich der Kardinal regelmäßig unterzog:

Der cardinal hatt disen morgen seine frühelings cur angefangen, und zum ersten mahll zum purgieren eingenommen, ist woll ein rechter tag im betth und zuhauß zuezubringen gewesen, ist gleich Gott lob woll genueg abgangen." (Pfütsch, S. 39)

Solchen „Kuren" konnte sich freilich nur der unterziehen, der es sich finanziell auch leisten konnte, einen Tag oder auch mehr im Bett zu bleiben, zu durchschlagend waren die Auswirkungen.


Mistelbach-Rudtorffer-Tabulae Armamentarii Chirurgici Selecti-Tafel 04

Ernst Adalbert von Harrach unterzog sich im Frühjahr meist einer ca. einmonatigen Kur; je nach Wirkung musste er diese Tage zuhause verbringen; manchmal konnte er sich auf die Straße „wagen" oder Besuch empfangen.

Der cardinal hatt heint frühe wider zum anderen mall zum purgiren eingenommen, wirdt drauf 30 tag an einander daß vipera pulfer brauchen, und dises wirdt seine ganze früelings cur sein: Die heintige purga hatt ein gar guete und balde operation gehabt, sonsten ist er den ganzen tag zu heuß gebliben, und auch khein e mensch zu ihme khommen." (Pfütsch, S. 39)

Purgieren verwendete er auch bei diversen Krankheiten: bei Fieber, Kopfschmerzen oder Magenschmerzen. Leuchtet dies bei letzterem Übel noch ein, ist die Wirksamkeit von Erbrechen bei Fieber anzuzweifeln.

Weitere wichtige Mittel, deren Einsatz die Gesundheit wiederherstellen sollte, waren Aderlass und Schröpfen – darüber dann im nächsten Blog. 


Text: Prof. Dr. Elisabeth Vavra

Quellen: Robert Jütte, Ärzte, Heiler und Patienten. Medizinischer Alltag in der frühen Neuzeit. München 1991. Pierre Pfütsch, Aderlass, Purgation und Maulbeersaft. Gesundheit und Krankheit bei Ernst Adalbert von Harrach (1598–1667) (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 57). Innsbruck-Wien-Bozen 2013. 

#20 „Von leib byn ich eitz so gesont als ich in der jugendt …"


Was bedeutet eigentlich „Gesundheit"? Laut Definition der WHO (= „World Health Organisation") ist „Gesundheit [ist] ein Zustand völligen psychischen, physischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen." Und weiter heißt es: „Sich des bestmöglichen Gesundheitszustandes zu erfreuen ist ein Grundrecht jedes Menschen, ohne Unterschied der Rasse, der Religion, der politischen Überzeugung, der wirtschaftlichen oder sozialen Stellung."

In der Vergangenheit gab man sich da bescheidener. Noch war die Sorge um die eigene Gesundheit nicht zum Mittelpunkt des Lebens geworden, wie es heute manchmal der Fall ist. Zedlers „Universallexikon" (1735) und Krünitzs „Öconomische Encyclopädie", zwischen 1773 bis 1858 in 242 Bänden erschienen, definieren Gesundheit als „Der Zustand, da man gesund ist, d. i. da der Leib und dessen Glieder zu ihren Verrichtungen geschickt sind." Man fühlte sich also gesund, wenn man seine natürlichen Verrichtungen ungehindert ausüben konnte.

IMAREAL - Krems: Die Hausmutter beim Zubereiten
von Arzneien. Kupferstich aus der "Georgica Curiosa",
Nürnberg 1716

Neben Definitionen in Nachschlagewerken geben uns auch persönliche Aufzeichnungen aus der Vergangenheit Aufschluss darüber, wie Menschen mit Gesundheit und Krankheit umgegangen sind, ob und was sie für die Erhaltung der Gesundheit getan haben usw. Die Quellenbasis ist leider nur schmal und liefert uns in erster Linie Material zur Situation der oberen sozialen Schichten. Der Einzelne machte sich bereits in der frühen Neuzeit Gedanken darüber, was ihm gut, was ihm schlecht bekam. So vermerkt Kardinal Ernst Adalbert von Harrach (1598–1667) in seinen Tagebüchern bedauernd, dass ihm das an Völlerei grenzende Tafeln in den späten Abendstunden nicht mehr so recht bekam: „dan das vill eßen zur nacht, will meinen magen khein guett thuen." (Pfütsch, S. 21).


Die Schilderung seines Tagesablaufs in den folgenden Jahren zeigt, dass er mit zunehmendem Alter auf die spätabendlichen Gastereien verzichtete. War es zunächst nur eine diätische Maßnahme während Krankheiten, dass er abends allein „in camera" speiste, so wurde es später Teil seiner Gesundheitsvorsorge. Das heißt aber deshalb nicht, dass er sich immer strikt daran hielt.

Etwas anders in Sachen Ernährung verhielt sich der Kölner Ratsherr Hermann Weinsberg (1518–1597), der in seinen umfangreichen autobiographischen Aufzeichnungen immer wieder auch auf seinen Gesundheitszustand und alle damit verbundenen Maßnahmen einging. Er lebte zeit seines Lebens mäßig, beschränkte sich auf zwei Hauptmahlzeiten – morgens um elf und abends um sieben. Nach den Mahlzeiten gönnte er sich etwas Ruhe oder er machte Bewegung. Nicht verzichten konnte und wollte er auf alkoholische Getränke, mittags trank er einen halben Krug Bier und abends zwei bis drei Gläser Wein. Erst im Alter reduzierte er die Mengen. 

Tafel, Foto: thinkstock (Mitja Derenda)

Ernst Adalbert von Harrach schätzte die wohltuende Wirkung kühler Getränke. Selbst auf seinen zahlreichen Reisen wollte er darauf nicht verzichten und nahm immer ausreichend Eis zur Kühlung der Getränke mit. Entgegen der Gewohnheit seiner Zeitgenossen lehnte er übermäßigen Alkoholgenuss ab und beschränkte sich auf ähnliche Mengen wie Weinsberg verzeichnet. Übermäßiger Alkoholgenuss war für ihn eine gesundheitliche Gefährdung und eine Einschränkung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit.


Beide – der Kölner Patrizier und der Wiener Kirchenfürst – legten Wert auf einen geregelten Tagesablauf. Weinsberg stand morgens zwischen fünf und sechs Uhr auf und ging nach neun Uhr abends zu Bett. Auch Ernst Adalbert von Harrach zählte zu den Frühaufstehern und achtete selbst auf seinen zahlreichen Reisen darauf, genügend Schaf zu bekommen. Für beide waren Schlaf und Ruhephasen wichtige Mittel, um die Gesundheit zu erhalten. Aber auch die Menschen der frühen Neuzeit blieben von Schlafstörungen nicht verschont. Besorgt berichtet Hermann Weinsberg ab seinem 60. Lebensjahr von den alterstypischen Schlafstörungen. Nächtlicher Harndrang zwang ihn dazu, das Bett zu verlassen. So aus dem Schlaf gerissen gelang es ihm nur schwer, wieder einzuschlafen. Anderntags waren es liebestolle Kater und Katzen, die seine nächtliche Ruhe störten. Besorgt vermerkte er, dass er sich im Bett zehn- bis zwanzigmal von einer Seite auf die andere wälzte.

Auch Bewegung gehörte zu den gesundheitserhaltenden und -fördernden Maßnahmen: Wann immer Zeit und Gelegenheit dazu war, machte Ernst Adalbert von Harrach Spaziergänge, um so die frische Luft zu genießen: „Sein auf den abendt noch erst ein wenig auch in den Hoffgarten, dan es bedarf es woll das einer auf den abendt an den lufft gehe, sich ein wenig abzukhüeln." (Pfütsch, S. 28). Weitere Aufenthalte in der frischen Luft verschaffte ihm eine seiner Lieblingsfreizeitbeschäftigungen: das Kegeln. Wenn es das Wetter erlaubte, besuchte er seine Bekannte, um mit ihnen in ihren Gärten zu kegeln. Sicher stand im Vordergrund der gesellschaftliche Aspekt dieser Tätigkeit. Aber er schätzte auch die damit verbundene Bewegung in der frischen Luft und die Möglichkeit, den Körper durch diese Aktivität zu erwärmen: „Nachmittag, weill nichts anderes zuthuen gewesen, haben wier halt wider biß auf den abendt khegl geschoben, und unß bei dem feüchten khüelen wetter also gewermet." (Pfütsch, S. 30).

Mehrere Eintragungen in den Aufzeichnungen des Kardinals Ernst Adalbert von Harrach deuten darauf hin, dass er sich wohl des Zusammenhangs von Wetter und körperlichen Beschwerden bewusst war. Kühles Wetter machte ihm zu schaffen. Mit Bewegung hoffte er die körperliche Wärme zu steigern und so den drohenden Katharren vorzubeugen. Kegeln war bis ins hohe Alter für Ernst Adalbert von Harrach ein wichtiger Bestandteil seiner Gesundheitsvorsorge: „… und weill es auf den abendt schön gewesen, sein wier wider in den hoffgarten zu unser ordinari exercitio deß khegelscheibens, weill wier befunden daß unß diese bewegung vill zu erhaltung gueter gesundtheit dienet." (Pfütsch, S. 31).

In der kommenden Woche erfahren Sie mehr über angeblich gesundheitsfördernde Maßnahmen, die der inneren Reinigung des Körpers dienten.


Quellen:

Robert Jütte, Ärzte, Heiler und Patienten. Medizinischer Alltag in der frühen Neuzeit. München 1991.

Pierre Pfütsch, Aderlass, Purgation und Maulbeersaft. Gesundheit und Krankheit bei Ernst Adalbert von Harrach (1598–1667) (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 57). Innsbruck-Wien-Bozen 2013.

Text: Prof. Dr. Elisabeth Vavra

#19 Feldscherer, Wundarzt, Chirurg


Erste Spuren chirurgischer Behandlungen finden sich bereits an Skeletten der Steinzeit. Durch Jahrhunderte hindurch waren große chirurgische Eingriffe meist nur das Ultimum Remedium – das letzte Mittel der ärztlichen Kunst. Eingesetzt wurden sie bei Unfällen, wenn es etwa galt, Knochenbrüche zu verarzten, oder bei Kriegsverletzungen, wenn Wunden versorgt werden mussten. Die älteste Armamputation wurde an einem männlichen Neandertaler vor ca. 50.000 Jahren durchgeführt.

Wissen und Kenntnisse der antiken Größen auf dem Gebiet der Chirurgie wurden in den Klosterbibliotheken und im arabischen medizinischen Schriftgut bewahrt und tradiert. Bis ins Hochmittelalter hinein war es Mönchen und Geistlichen erlaubt, auch chirurgische Eingriffe vorzunehmen. Das änderte sich: Ab 1130 wurde auf den diversen Konzilen mehr und mehr die ärztliche Betätigung von Klerikern eingeschränkt, bis schließlich auf dem Konzil von Tours 1163 operative Eingriffe den Mönchsärzten zur Gänze verboten wurden. So konnte und musste sich eine neue Klasse von Heilbehandlern herausbilden: Barbiere, Bader, Wundärzte. Diese führten nun einfache chirurgische Behandlungen durch wie Aderlass, Zahnextraktionen, Öffnen von Abszessen, Verbinden und Behandeln von Wunden etc. So kam es für 700 Jahre zu einer Abspaltung der Chirurgie von der wissenschaftlichen akademischen Medizin. Die Ausbildung erfolgte nicht mehr an Universitäten, sondern in der Praxis eines Wundarztes in der Form einer Lehre. Das hieß aber nicht, dass die Chirurgie deshalb in ihrer Entwicklung stagnierte.

Chirurgische Handschriften und ab dem ausgehenden 15. Jahrhundert Drucke spiegeln das umfassende Wissen und das weite Arbeitsfeld dieser frühen Chirurgen. Gute Beispiele für das ausgehende Mittelalter sind die „Chirurgia" (1497) des Hieronymus Brunschwig (1450-1533) und das „Feldbuch der Wundtartzney" (1517) des Hans von Gersdorffs (gest. um 1517). Nach einer Einleitung, die Anweisungen zum korrekten Verhalten eines Wundarztes enthält, beschäftigt sich das ältere Werk in den folgenden fünf „Traktaten" mit der Behandlung von Wunden, stumpfen Verletzungen durch Schlagen und Stoßen, Beinbrüchen und Verrenkungen. Im letzten Teil erhält man Anweisungen zur Zubereitungen von Arzneien, Pflastern, Salben und dgl. mehr.

Abb. 1: Aderlassmann
Das jüngere Werk ist inhaltlich anders aufgebaut. Es umfasst insgesamt vier Traktate, die wiederum in Kapitel unterteilt sind. Der erste Traktat beschäftigt sich zunächst sehr detailliert mit der Anatomie des menschlichen Körpers. Vor dem 13. Kapitel ist ein ganzseitiger Holzschnitt eingeschoben, der einen stehenden Mann mit geöffneter Leibeshöhle zeigt. Gleichzeitig dient dieser Holzschnitt zur Angabe der Stellen am Körper, an denen zur Ader gelassen werden kann und soll. Mit dem Aderlass beschäftigen sich dann die anschließenden Kapitel 13 bis 16. Der zweite Traktat wird von einem ganzseitigen Holzschnitt eingeleitet; dieser zeigt einen nackten Mann, der an den unterschiedlichsten Körperteilen von verschiedenen Waffen durchbohrt ist. Die Verse über dem Holzschnitt drücken die Hoffnung aus, dass ihm der Chirurg trotz der vielen „straych und stich" helfen kann. Der zweite Traktat beschreibt die Arbeit des Chirurgen: mit Schädelverletzungen beginnend arbeitet sich der Autor durch den gesamten menschlichen Körper durch. Eindrucksvolle Illustrationen schildern dem Benutzer des Werkes z.B. wie man Knochen einrichtet und schient oder wie und mit welchem Instrument man eine eingedrückte Schädeldecke wieder „auffschraufft". Eingestreut in diese Erläuterungen sind Rezepte für passende Salben, Wundpflaster, Balsame u. ä. mehr. Das achte Kapitel beschäftigt sich mit den Möglichkeiten Blutungen zu stillen, eine in Zeiten, in denen man noch ohne Bluttransfusionen auskommen musste, ganz wichtige ärztliche Kunst. Die angeführten Mittel lassen mich wieder einmal dankbar dafür sein, dass ich im 20. Jahrhundert zur Welt kam: Oder hätten Sie gern als Wundverschluss schwarzes Pech oder eine Schmiere, die aus gebranntem Kalk, Alaun und schwarzem Pech zubereitet wird? Wohl kaum. Vor besondere Herausforderungen waren die die Heere begleitenden Chirurgen – die Feldscherer – gestellt. Sie mussten Wunden versorgen, die durch Geschosse unterschiedlicher Größe verursacht waren. Oft mussten sie auch im Feld Amputationen durchführen, wenn die Gliedmaßen zu sehr zerfetzt waren. Auch dazu gibt Hans von Gersdorff Anleitungen. Ich erspare Ihnen die Einzelheiten. Nach diesen Gänsehaut verursachenden Kapiteln finden sich Anweisungen zur Zubereitung von Sedativen, also schmerzstillenden Arzneien. Allerdings kann ich mir kaum vorstellen, dass z.B. die angeführten diversen Schmalzarten auch wirklich helfen können. Immerhin kannte man auch bereits Opium, gewonnen aus Mohnkapseln.

Abb. 2: Gersdorffs
Der dritte Traktat beschäftigt sich mit der Lepra, dem Aussatz. Nach einem Kapitel, das sich u.a. mit den Ursachen und den verschiedenen Ausprägungen der Krankheit beschäftigt, werden ausführlich die Zeichen der Lepra beschrieben. Ein Holzschnitt, der dem Traktat eingefügt ist, zeigt eine solche Leprabeschau, die über Leben oder „sozialem" Tod des Patienten entschied. Denn wurde Lepra diagnostiziert, bedeutete das für den Betroffenen den Ausschluss aus der Gemeinschaft. Nach einer Totenfeier für den „lebendig Toten" wurde er aus der Stadt, der Gemeinde hinausgeführt zu dem Leprosen/Siechenhaus, wo er bis zu seinem Tod leben musste. Man nimmt heute an, dass viele dieser Leprosen in Wirklichkeit nur an einer Hautkrankheit erkrankt waren und ohne Grund das Los der „lebendig Toten" ertragen mussten. Der vierte Traktat umfasst ein lateinisch-deutschen Vokabular der Anatomie. Damit endet das „Feldbuch der Wundartzney".


Wenn Sie neugierig geworden sind, in Hans von Gersdorffs „Feldtbuch der Wundtartzney" können Sie jetzt auch online blättern; das Heidelberger Exemplar der Ausgabe Straßburg 1517 finden Sie unter http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/gersdorff1517/0001, das Münchner Exemplar unter urn:nbn:de:bvb:12-bsb00010085-8; auch die spätere Auflage Straßburg 1528 wurde bereits von der Bayerischen Staatsbibliothek digitalisiert und online zur Verfügung gestellt: urn:nbn:de:bvb:12-bsb00024302-1.

Der Blog zur Ausstellung „Bader, Medicus, Primar" geht jetzt in die Sommerpause; im August geht’s weiter – ich hoffe, Sie bleiben uns treu!


Text: Prof. Dr. Elisabeth Vavra

 

 #18 „Zu morgens den Harn zum Doktor getragen…“ 


Die meisten der uns heute geläufigen Untersuchungsmethoden in einer ärztlichen Praxis waren in der Vergangenheit noch unbekannt. Dazu gehören körperliche Untersuchungen ebenso wie alle Methoden der Labordiagnostik usw. Die Perkussion etwa, das Abklopfen der Körperoberfläche wurde erst 1761 vom Grazer Arzt Joseph Leopold von Auenbrugger 1761 beschrieben. Die Auskultation, das Abhören des Körpers, entwickelte 1816 der französische Arzt René Théophile Hyacinthe Laënnec.

Arzt führt eine Harnbeschau durch
Holzschnitt aus: Francesco Petrarca,
Von der Artzney bayder Glück,
Augsburg 1532 (© Privatbesitz)
Die ältesten diagnostischen Methoden waren die Pulsdiagnose und die Harnschau. Schon die griechischen Ärzte der Antike wie Diogenes von Apollonia, Hippokrates oder Praxagoras von Kos versuchten anhand einer Untersuchung des Pulses an Hand, Schläfen, Hals, Lenden oder Knie Rückschlüsse auf den Gesundheitszustandes des Patienten zu ziehen.
Die Harnschau war wichtiger Bestandteil des vormodernen medizinischen Alltags. Bis weit ins 18. Jahrhunderts hinein wurde ihre Aussagekraft nicht in Frage gestellt, diente sie als wichtiges Diagnosemittel, um Krankheiten zu erkennen und die notwendigen Therapien einzuleiten. Auch sie geht auf die antiken Autoritäten zurück. Untersucht sollte der Harn nach charakteristischen Veränderungen der Konsistenz, der Farbe und der Beimengungen. Weitere Kriterien waren Harnmenge, Geschmack und Geruch.  

Die Harnschau war Inhalt zahlreicher medizinscher Schriften, zunächst im Mittelalter noch Handschriften, dann mit Aufkommen des Buchdrucks Drucke, die sich sowohl an Mediziner wie auch an Laien wendeten. Bei der Konsistenz unterschied man in diesen medizinischen Texten zwischen dickem (grobem) und dünnem Harn und einer Konsistenz, die dazwischen lag und als gesunder Harn galt. Dicker Harn war u.a. an seiner dunkleren Farbe zu erkennen, dünnflüssiger Harn an einer wässrigen. In einem italienischen Harntraktat zog man als Vergleich Weinsorten heran: ein dicker Harn sei dem Paduaner Wein ähnlich, ein dünner einem Wein von wässriger Substanz.


Ausstellungsansicht: unterschiedliche Harnfarben (© Landesmuseum Niederösterreich, Foto: C. Hauer)

Die Harntraktate enthielten sog. Harnfarbenkreise, die der Klassifizierung der Harnfarben dienten. Die Farbbezeichnungen folgten einem durch Jahrhunderte standardisierten Kanon. Das Farbspektrum reichte von Weiß bis Schwarz. Um die Farben für den Benutzer fassbar zu machen, wurden zur Definition der Farben Vergleiche aus dem Alltag herangezogen:
Harn konnte „weiß sein als Wasser; weiß als Milch, da das Schmaltz von gemacht ist; weiß als ein durchsichtiges Horn; bleich als ein Kamels Farb [an diesem Vergleich erkennt man aus welchem Kulturbereich, nämlich dem arabischen, die Schriften gespeist wurden]; bleich als Brüh, so Fleisch halb gekocht ist; bleich als Fleischwasser; gelb als ein bleicher Apfel; gelb als schöne Quitten; roth als bleich Gold; roth als schön Gold; roth als liechter Saffran; roth als satter Saffran; roth als Flamme des Feuers; Leberfarb; eine Farb als dicker rother Wein; grün als Krautsaft; grau als Bley; Schwartzfarb als ein Dinten; schwartz als ein Horn.“

Die Farben in den zeitgenössischen Harnfarbentafeln variieren stark. Bei den Handschriften gab es ja für den, der die Kolorierung durchführte, vermutlich in den meisten Fällen wenigstens eine direkte Vorlage, an der er sich halten konnte. Anders lief es bei den Drucken. Hier wurde sehr frei koloriert. Oft stimmen die verwendeten Farben überhaupt nicht mit den im Text beschriebenen Farben überein.
Die dritte Untersuchung des Harns galt den Beimengungen. Dabei war nicht nur die Konsistenz dieser Beimengungen wichtig, sondern auch deren Lokalisierung im Harnglas. Man unterschied drei Zonen: Beimengungen, die an der Oberfläche sich sammelten, solche, die auf den Boden des Glases absanken, und solche, die in der Flüssigkeit schwebten. Manche Autoren reihten in ihrer Interpretation die drei Abschnitte des Glases den mutmaßlich betroffenen Körperregionen zu: Beimengungen, die an der Oberfläche schwammen, deuteten auf eine Erkrankung des Kopfes, solche in der Mitte des Glasbereiches auf Probleme mit dem Brustbereich und das Sediment am Glasboden auf Erkrankungen im Bereich unterhalb der Rippen. Schaumbildung z. B. wurde als unzureichende Verdauung interpretiert. Bleifarbene  Wolken im Harn galten als Hinweis auf Schwindsucht, grünliche oder gelbliche Wolken als Hinweis auf Galle.

Der Arztbesuch (Detail)
Jan Miense Molenaer (um 1610-1668, Haarlem), um 1668
(© Privatbesitz)
Besonders wichtig für eine präzise und verlässliche Harndiagnose war der richtige Umgang mit dem Harn. Der Harn musste zur richtigen Zeit gewonnen werden: Es sollte der erste Harn gleich am frühen Morgen sein. Kranke sollten den gesamten Harn abgeben. Wichtig war auch, jegliche Verunreinigung zu vermeiden. Das Harngefäß, mit dem man dem Harn zum Arzt brachte, sollte aus durchsichtigem Glas sein, da man das Umleeren des Harns in ein geeignetes Glas erst in der Praxis vermeiden sollte. Als Form des Glases empfahl man ein bauchig ausgeweitetes Gefäß, das in seiner Form der Harnblase ähnelte. Bei der Harnschau sollte das Glas gegen das Licht oder gegen eine helle Wand gehalten werden. Durch schräges Halten und langsam kreisenden Bewegungen ließen sich am besten die Ablagerungen im Harn beurteilen.
      
In vielen Fällen kam der Harnbeschauer mit dem betroffenen Kranken nicht einmal in persönlichen Kontakt. Der Harn wurde zur Untersuchung vorbeigebracht und mit meist nur sehr spärlichen Informationen zum Zustand des Kranken überreicht. Diese Praxis löste in der frühen Neuzeit zunehmend ein Unbehagen bei den ärztlichen Autoren aus. Empfahlen sie doch den Ärzten einen persönlichen Krankenbesuch und eine ausführliche Befragung desselben – das, was wir heute als Anamnese bezeichnen.

Ganz verschwand die Harnschau nie. Als sie mehr und mehr aus den Praxen der Ärzte verdrängt wurde, boten Quacksalber, Naturheiler  u.a., die schon davor den Medizinern auf diesem Gebiet Konkurrenz gemacht hatten, weiter diese Dienste an. So praktizierte in Rachling bei Stainz bis zu seinem Tod 1935 der Wunderdoktor „Höllerhansl“, zu dem die Menschen von weit her pilgerten, um ihren Harn beschauen zu lassen. Der Zug der schmalspurigen Lokalbahn, mit dem die Patienten von Stainz nach Rachling kamen, hieß im Volksmund der „Flascherlzug.“

Lit.: Michael Stolberg, Die Harnschau. Eine Kultur- und Alltagsgeschichte. Köln 2009.

Text: Prof. Dr. Elisabeth Vavra

#17 Vom Leibarzt zum Gemeindearzt


Den Besuch bei einem an einer Universität ausgebildeten Arzt konnten sich in Zeiten ohne Krankenkasse nur wenige leisten. Herrscher und Adelige hatten ihre Leibärzte. Frei praktizierende Ärzte fanden eine zahlungskräftige Klientel in den größeren Städten. 

Bestallungsbrief für einen Stadtphysikus
Waidhofen an der Ybbs, um 1660
(© Waidhofen an der Ybbs, Stadtarchiv)
Unter dem Eindruck der permanent drohenden Seuchengefahr kam es ab dem 16. Jahrhundert zu ersten durchgreifenden Neuerungen in der Organisation des Gesundheitswesens. 1577 verlangten die Niederösterreichischen Landstände – ein Organ, vergleichbar dem heutigen Landtag – die Anstellung eines Medicus als Landschaftsarzt, der sie in Sachen Gesundheitswesen beraten sollte. In der Folge wurden sie an der Wiener Universität vorstellig und baten um Vorschläge für einen geeigneten Arzt.

1584 wurden diesem Landschaftsarzt die Viertelsärzte unterstellt: in Melk für das Viertel ober dem Wienerwald, in Wiener Neustadt für das Viertel unter dem Wienerwald, in Waidhofen an der Thaya für das Viertel ober dem Manhartsberg und in Mistelbach für das Viertel unter dem Manhartsberg. Ihr jährlicher Sold betrug 200 Gulden. Dem Viertelmedicus unterstanden die in der Region praktizierenden Ärzte, die Bader, Wundärzte, Chirurgen,  Apotheker und Hebammen des jeweiligen Viertels, die er zu überwachen hatte. Weiters hatte er dafür zu sorgen, dass die Verordnungen zur Seuchenbekämpfung eingehalten wurden und alle anderen Sanitätsmaßnahmen; dazu zählten auch die tierärztlichen Belange.  Die Viertelärzte selbst mussten ihre PatientInnen kostenlos behandeln. Diese hatten nur für die Kosten der Medikamente und für allfällig anfallende Reisekosten aufzukommen. Daneben gab es aber auch in manchen Gegenden bereits fortschrittliche Grundherren, die Ärzte für die Betreuung ihrer Untertanen beschäftigten, so etwa die Liechtensteiner in Mistelbach.

Bestallungsbrief für einen Stadtphysikus
Waidhofen an der Ybbs, um 1660
(© Waidhofen an der Ybbs, Stadtarchiv)

Eine durchgreifende Neuorganisation des Sanitätswesens veranlasste Kaiserin Maria Theresia. Federführend war ihr Leibarzt, der Niederländer Gerard van Swieten. Zunächst wurde 1753  eine „Medizinalordnung“ publiziert, die die Berufspflichten der Ärzte und Apotheker regelte. Das Hauptwerk war dann das von der Sanitätshofdeputation erarbeitete und am 2. Jänner 1770 publizierte „Sanitätshauptnormativ“, das am 10. April 1773 noch durch eine Erläuterung und Zusätzen ergänzt wurde – „zu jedermanns leichterem Begriff“. Die ersten vier Paragraphen regeln die Organisation des Sanitätswesens: In jedem Erbland, so auch in Niederösterreich, wurde eine „Sanitäts-Commission“ eingerichtet, die der jeweiligen Landesregierung unterstellt war. Ihr Vertreter vor Ort war der Kreishauptmann oder Vorsteher in den Kreisen und Distrikten. Sie hatten über die Zustände zu berichten und darauf zu achten, dass alle Verordnungen von den mit Sanitätsangelegenheiten befassten Personen auch eingehalten wurden.

Die folgenden Paragraphen legen Aufgabe und Pflichten der Medici fest. Die nach behördlicher Ordnung aufgenommenen und bestätigten Land- und Stadt-Physici hatten in ihren Bezirken dafür zu sorgen, dass Chirurgen, Bader, Apotheker und Hebammen ihrer Arbeit korrekt nachkamen. Sie mussten jährlich ohne Vorankündigung alle Apotheken in ihrem Bezirk kontrollieren und hatten darauf zu achten, dass keine Marktschreier, Quacksalber, Landstreicher oder andere unbefugt Kranke betreuten und Arzneien verkauften. Abschnitt 7 beschäftigt sich mit dem sittlichen Verhalten der Medici: „Sie haben ihr Amt bey Reichen, und Armen mit gleichen Eifer zu pflegen, dem Kranken mit Liebe zu begegnen, vorzüglich aber auf sein Seelenheil Sorge zu tragen …“. Und er regelt ihre Arbeitszeit: Ohne Erlaubnis dürfen sie sich nachts nicht von ihrer Wirkungsstätte entfernen. Der erste Teil des Sanitätshauptnormativ schließt mit der Eidesformel für die Medici.

Sanitätshauptnormativ
Wien, 2. Jänner 1770
Stift Altenburg, Archiv
(© Elisabeth Vavra)
Der zweite Teil des Hauptnormativs umfasst die Instruktion für die Wund-Ärzte und Bader. Die Abschnitte 13 bis 16 regeln die Ausbildung und Organisation der Wundärzte (Chirurgen): „Zu diesem Ziel und Ende sollen: Ordentliche Gremia, oder die sogenannte Lade der Wundärzte, in jedem Kreise oder Viertel des Landes, wo noch keine dergleichen sind, durch Unsere Landesstelle mit Zuziehung des Landes-Proto-Medici errichtet werden, bey welchen alle Wundärzte des Kreises einverleibt seyn müssen und bey welchen auch die Lehrjungen gehörig aufgedungen und nach verflossener Lehrzeit freygesprochen und mit einem Lehrbriefe versehen werden.“ Jedem Wundarzt wurde ein bestimmtes Gebiet zur Betreuung zugewiesen. Jeder Vorsteher eines chirurgischen Gremiums war verpflichtet, jedes halbe Jahr dem Landschaftsprotomedicus bei einer Geldstrafe von 12 Reichstaler, Bericht zu erstatten. Finanziert wurden die Gremien durch die Aufnahmegebühren neuer Mitglieder, den Mitgliedsbeiträgen und Prüfungstaxen. Diese Beträge wurden nicht nur für die Anschaffung von Instrumenten und Büchern, sondern auch zur Hilfe für in Schwierigkeiten geratene Mitglieder sowie zur Unterstützung von Witwen und Waisen verstorbener Mitglieder verwendet.


Ärztlicher Betreuungsvertrag für Dr. Holzgärtner
Fürst Karl Khevenhüller-Metsch, Schloss Starein,
20.04.1804, Retz, Stadtarchiv (© Elisabeth Vavra)

Unter Kaiser Franz Josef wurde am 30. April 1870 das Reichssanitätsgesetz verabschiedet. Damit wurde eine neue einheitliche, von oben gelenkte Sanitätsverwaltung eingerichtet. Es gab nun auf vier Ebenen Sanitätsorgane bei den politischen Behörden: den obersten Sanitätsrat mit dem Referenten für Sanitätsangelegenheiten im Ministerium des Inneren; die Landessanitätsräte, die Landessanitätsreferenten bei den politischen Landesbehörden; die landesfürstlichen Bezirksärzte bei den Bezirkshauptmannschaften; bei Städten mit eigenen Gemeindestatuten die von den Gemeindevertretungen angestellten Sanitätsorgane. In Folge des Reichssanitätsgesetzes von 1870 wurde ein Landessanitätsrat für das Erzherzogtum Österreich unter der Enns als beratendes und begutachtendes Organ für die dem Landeschef obliegenden  Sanitätsangelegenheiten des Landes errichtet. Auch die Sanitätsbezirke in Niederösterreich wurden neu geordnet. Diese nach dem Amtssitzen der Bezirksärzte benannten Sanitätsbezirke waren 1871: Amstetten, Bruck an der Leitha (für Bruck an der Leitha und Baden), Hernals, Oberhollabrunn (für Oberhollabrunn und Horn), Korneuburg (für Korneuburg und Großenzersdorf), Krems, Mistelbach, Wiener Neustadt (für Wiener Neustadt und Neunkirchen), St. Pölten (für St. Pölten und Lilienfeld), Scheibbs, Sechshaus, Waidhofen an der Thaya und Zwettl.

Ordinationsschild Dr. Mathias Weisswasser
Retz, Museum im Bürgerspital (© Peter Böttcher)
Das Reichssanitätsgesetz enthielt nur grundsätzliche Bestimmungen. Die Länder waren angehalten, Durchführungsbestimmungen zu erlassen. In Niederösterreich geschah dies erst  1884 mit dem Landesgesetzblatt Nr. 9 eine Interpretation: „Jeder Gemeinde ist die Verpflichtung auferlegt dahin zu wirken, daß sich in ihrer Mitte die erforderliche Anzahl von Ärzten und Hebammen ansässig mache. Insofern es kleinen Gemeinden nicht möglich ist, zu diesem Zwecke die erforderlichen Mittel aufzubringen, wird es geboten sein, daß mehrere benachbarte Gemeinden für die Ansässigmachung von Ärzten und Hebammen gemeinschaftlich Sorge tragen und, wenn nötig, durch gemeinsam zu bestreitende Entlohnungen sich die erforderliche Hilfe sichern.“ Die Pflichten der Gemeindeärzte umfassten alle medizinischen, hygienischen und sanitätspolizeilichen Belange im weitesten Sinne. Ihre Lage war aber kläglich. Das Gebiet, das sie zu betreuen hatten, war meist groß. Sie hatten kaum ein Einkommen, dass es ihnen erlaubte, sich ein Pferd und einen Wagen zu halten. Denn die Gemeinden zahlten schlecht. Vom Honorar zogen die Gemeinden gleich wieder einen Teil für die Miete der Praxisräume ein. Es gab weder Kündigungsschutz noch Pensionen. Eine Anstellung als Gemeindearzt war daher wenig erstrebenswert.
Ländliche Gebiete blieben weit ins 20. Jahrhundert hinein medizinisch unterversorgt.

Quelle:
Berthold Weinrich unter Mitarbeit von Erwin Plöckinger, Niederösterreichische Ärztechronik. Geschichte der Medizin und der Mediziner Niederösterreichs. 1990.

Text: Prof. Dr. Elisabeth Vavra


#16 Der „Doctor Medicinae“ 


Sehen wir auf einer medizinischen Illustration des Mittelalters oder der frühen Neuzeit einen Mann mit dem Uringlas in der Hand, so können wir mit 99,99 % sicher sein, dass es sich bei dieser Figur um einen „Bucharzt“ handelt, also um einen Mediziner, der an einer Universität studiert hatte. Neben den Badern (siehe Blogbeitrag #2 im Dezember 2014) und Wundärzten bzw. Chirurgen bildeten sie die dritte Gruppe innerhalb des Berufsstandes, der sich um die Gesundheit der Bevölkerung kümmerte.


Hl. Petrus heilt einen Kranken – Arzt führt eine Harnbeschau durch

Holzschnitt aus: Francesco Petrarca, Von der Artzney bayder Glück,
Augsburg 1532 (© Privatbesitz)

Im Früh- und Hochmittelalter lag die Pflege der Heilkunst in den Händen der Orden. In den Klosterbibliotheken wurden die Werke antiker Ärzte bewahrt und immer wieder kopiert. Die Klosterärzte übten ihre Tätigkeit in den Klöstern, aber auch im Umland aus. Da die Kirche das Sezieren von Leichen verboten hatte, schwand allerdings das Wissen auf dem Gebiet der Anatomie. 1163 wurde auf dem Konzil zu Tours den Priestern ausdrücklich jegliche chirurgische Tätigkeit untersagt; am zweiten Lateranischen Konzil 1215 wurde das Verbot für die Kleriker, sich mit operativer Medizin zu beschäftigen, nochmals bekräftigt. Die Würzburger Diözesansynode 1298 verbot Klerikern auch, Operationen beizuwohnen. Mit diesem Verbot trennten sich die Wege der inneren Medizin und der Chirurgie, auf die Buchärzte nun nur mehr verächtlich hinabblickten.

Für die Herausbildung eines weltlichen Ärztestandes wichtig war die im 13. Jahrhundert einsetzende Trennung des Arztberufes von dem des Apothekers, die erstmals in der „Medizinalordnung“ Kaiser Friedrichs II. 1240 gesetzlich vorgeschrieben wurde. Vor dem 14. Jahrhundert gab es in Deutschland noch keine Hochschulen, an denen Medizin gelehrt wurde. Vorher musste man dazu nach Italien oder Frankreich gehen: Seit dem 10./11. Jahrhundert war die berühmteste Universität die Schule von Salerno, an der während des Mittelalters sogar Frauen zugelassen waren. Weitere medizinische Fakultäten, die gern von Deutschen besucht wurden, waren die im 12. Jahrhundert gegründeten Kollegien an den Hochschulen von Padua und Bologna. In Frankreich bildeten die Universitäten in Montpellier und Paris Zentren der medizinischen Wissenschaft.


Der Doctor
Holzschnitt aus Jost Amman,
Ständebuch, 1568(© Privatbesitz)
Mit dem 14. Jahrhundert besserte sich die Situation in Deutschland: die Universitätsgründungen in Prag (1348), Wien (1365), Heidelberg (1386), Köln (1388) und Erfurt (1392) umfassten auch medizinische Lehrstühle. Dennoch bevorzugte der, der es sich leisten konnte, die Ausbildungsstätten in Italien oder Frankreich. Das Medizinstudium unterschied sich in seinem Aufbau kaum von anderen Studienrichtungen: Die Studenten, die etwa im Alter von vierzehn Jahren mit dem Studium begannen,  absolvierten zunächst einen dreijährigen Vorkurs in den „Septem artes liberales“ – den sieben freien Künsten, die Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie umfassten. Dann folgte das eigentliche Medizinstudium, das meist fünf Jahre dauerte. Gelehrt wurde reines Buchwissen: Die angehenden Mediziner mussten die Schriften der antiken Ärzte und Naturwissenschaftler  (Hippokrates, Galenus, Aristoteles, Dioscorides), der arabischen Autoritäten (z.B. Avicenna) sowie byzantinischer und abendländischer Gelehrter lesen. Sie wurden in Physiologie, Anatomie und Arzneimittellehre unterrichtet sowie in den damals zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Diagnostik: Beobachtung des Patienten (Gesichtsfarbe etc.), Fühlen des Pulses, Harnbeschau usw. Nach drei Jahren erwarben die Studenten das Baccalaureat. Die folgenden zwei Jahre praktizierten sie dann unter der Aufsicht ihrer Lehrer. Abgeschlossen wurde das Studium mit einer Prüfung und einer Disputation. Als selbständige Ärzte durften sie sich erst nach einem einjährigen Praktikum bei einem erfahrenen Arzt oder in einem Hospital niederlassen.

An der Ausbildung änderte sich im 16. Jahrhundert nur wenig. Maßgebend waren die medizinischen Autoritäten der Vergangenheit, deren Erkenntnisse man den Studierenden in den Vorlesungen nahe brachte. Sektionen von Leichen blieben selten. Anatomie lernte man in erster Linie an Hand von Schautafeln. Erleichtert wurde nun allerdings  ihre Verbreitung durch den Buchdruck. Auch der praktische Unterricht am Krankenbett fand nur in geringem Ausmaß statt. Das änderte sich erst im 17. Jahrhundert. Die Unterrichtssprache war weiterhin Latein, was mit zur Exklusivität des Medizinstudiums beitrug. Zwar versuchte bereits Paracelsus die deutsche Sprache in das medizinische Schrifttum einzuführen, er blieb aber ein Einzelfall. Erst im 18. Jahrhundert  begann sie sich langsam durchzusetzen. Im 18. Jahrhundert kam es dann zu einer Spezialisierung der medizinischen Fächer. Für die einzelnen Fachgebiete wurden eigene Lehrstühle eingerichtet.


Der Doctor, Kupferstich aus: Christoph Weigel,
Abbildung der gemein-nützlichen Haupt-Stände,
Regensburg 1698 (© Privatbesitz)
In den Kronländern und damit auch in Niederösterreich herrschte bis ins 18. Jahrhundert hinein ein deutlicher Mangel an akademisch ausgebildeten Ärzten. Nur eine privilegierte Minderheit konnte sich die Kosten eines Medizinstudiums leisten. Die Situation gestaltete sich im 18. Jahrhundert so dramatisch, dass sogar Laien als Totenbeschauer eingesetzt wurden. Die Reformen Maria Theresias auf dem Gebiet des Gesundheitswesens zielten auf eine Beseitigung dieser Missstände. In den Kronländern sollten nur mehr Ärzte tätig sein, die an einer inländischen Universität ihre Prüfungen abgelegt hatten:

„In den gesamten Erbländern sollen von den Landschaften keine anderen Mediker, Stadt- oder Landphysiker, als welche auf inländischen Universitäten studiert, nach geprüfter Fähigkeit und gründlicher Gelehrsamkeit daselbst die Doktoratswürde erlangt haben und, soviel immer möglich, eingeborene Landskinder sind, irgendwo aufgestellet oder aufgenommen werden. Zur Erreichung dieser heilsamen und gemeinnützigen Absicht aber sollen in jenen Fällen, wo sich eine dergleichen Stadt- oder Landschafts-Erledigung ergeben wird, Ihrer Majestät drei tüchtige Subjekte in Vorschlag gebracht, diese aus den vorgedachtermaßen auf inländischen Universitäten graduierten Personen ausgewählet und hiebei auf die eingeborenen Landeskinder vorzüglich Bedacht getragen, ein Gleiches auch in Ansehung der von den Landschaften besoldeten Chirurgen nach Tunlichkeit beobachtet werden.“ (13. Jänner 1753) 

Ein weiterer wichtiger Schritt bestand auch in einer besseren Ausbildung der Wundärzte, Apotheker und Hebammen, die an den Universitäten nun nach Abschluss ihrer handwerklichen Ausbildung eine Prüfung ablegen mussten. Um den Ärztemangel zu beheben wurden in den Provinzhauptstädten aufbauend auf die Lateinschulen Lyzeen für Land- und Zivilwundärzten eingerichtet, die das Angebot an Universitäten erweitern sollten. 1804 wurde für diese Anstalten eine Studienordnung erlassen, die Zulassung, Studienkurs etc. regelten.

Der Arzt, Josef Schmutzer, um 1840
Vorlage für die Druckserie "Der Mensch und seine Berufe"
Baden, Rollettmuseum (© Privatbesitz)
Quelle: Ernst Königer, Aus der Geschichte der Heilkunst. 1958; Berthold Weinrich unter Mitarbeit von Erwin Plöckinger, Niederösterreichische Ärztechronik. Geschichte der Medizin und der Mediziner Niederösterreichs. 1990.

Text: Prof. Dr. Elisabeth Vavra

#15 Wo die Contagion grassierte …

Die von der Obrigkeit angeordneten Maßnahmen bei Ausbruch der Pest oder einer anderen Seuche fruchteten nur dann, wenn es in den Städten und Märkten auch Personen gab, die sich um deren Organisation und Durchführung kümmerten. Gerade in kleineren Gemeinden spielten dabei neben örtlichen Behörden oft auch die Vertreter der Geistlichkeit eine wichtige Rolle.



Gföhler Kirche © Pfarre Gföhl www.pfarre-gfoehl.at
Mit dem Bau der heutigen Pfarrkirche in Gföhl wurde 1715 begonnen.
Im Pestjahr 1680 stand an ihrer Stelle noch ein kleiner romanischer Kirchenbau.
So geschah es auch im Gföhlerwald und im Markt Gföhl, als im September 1679 die Seuche ausbrach. Das erste Opfer war der alte Weiglhofer. Pfarrer Peter Franz Gregori nahm dem Sterbenden persönlich die Beichte ab und reichte ihm die Kommunion. Da er ja in der Pfarrei seine gesunden „Schäfchen“ weiter betreuen musste, schickte er Anfang Oktober einen Priester namens Lorenz in den Gföhlerwald, ferner auf eigenen Kosten noch drei Dienstboten und ein Pferd. Der Priester kümmerte sich um das Seelenheil der Erkrankten, spendete ihnen Trost und die Sakramente. Um ihr körperliches Wohlergehen, soweit dies bei einer solchen Erkrankung überhaupt möglich war, kümmerte sich der Pfarrer. Er schickte Arzneien und Lebensmittel zu den Holzknechten in den Gföhlerwald: „Pestlatwerg, Essich (=Essig), Rouckhen (=Räucherwerk), Pilleele (=Pillen), Pfloster, Kerzen, Brot, Fleisch, und Wein.“
Die Vorsichtsmaßnahmen griffen nicht; nach kurzer Zeit mussten nicht nur der Gföhlerwald, sondern auch die umliegenden Orte unter Quarantäne gestellt werden. In Zeiten der Pest waren medizinisch ausgebildete Personen Mangelware. So betätigte sich Peter Franz Gregori auch als Pestbeschauer. Für die Gesunden, die unter Quarantäne standen, las er bei Sturm und Schnee im Freien die Messe. Um eine weitere Ausbreitung zu verhindern, veranlasste er, dass  Hütten, deren Bewohner alle an der Pest verstorben waren, niedergebrannt wurden.

Pfarrkirche Maria Langegg, © http://maria-langegg.kirche.at/de/html/6/5.html
Die Wallfahrtskirche Maria Langegg nahm ihren Ursprung in einer kleinen Kapelle,
die der Salzburger Pfleger Matthias Häring errichten ließ. 1645 wurden die Serviten
zur Betreuung der Wallfahrt berufen. Nach Errichtung des Klosters wurde 1765 der alte
Kirchenbau mit Ausnahme der Ursprungskapelle abgetragen und durch einen Neubau ersetzt.
Die Pest erlosch auch im beginnenden Frühling nicht. Immer wieder flackerte sie auf. Unerschrocken versorgte der Dechant die Erkrankten weiter mit den Sakramenten. Immerhin  überlebten in dieser Zeit von 15 Erkrankten im Gföhlerwald fünf Personen. In den folgenden Wochen erfasste die Seuche auch den Markt Gföhl: Am 17. April erkrankte der Sohn des Thomas Staudinger. In den folgenden sieben Monaten fielen der Pest an die hundert Personen zum Opfer. Auch in Gföhl versuchte Pfarrer Peter Franz Gregori die notwendigen Maßnahmen zur Seuchenbekämpfung zu organisieren. In einem nahe gelegenen Wald ließ er Hütten errichten, um dort die Infizierten zu isolieren. Allerdings scheiterte dieser wohlgemeinte Versuch an der Halsstarrigkeit der Menschen, die lieber in ihrem eigenen Haus sterben wollten. Immerhin erreichte er, dass die betroffenen Häuser im Markt Gföhl Tag und Nacht bewacht wurden und so eine völlige Trennung zwischen Gesunden und Erkrankten erfolgte. Eine weitere Maßnahme seinerseits war, dass er die Pfarrkirche sperrte und alle kirchlichen Feiern unter freiem Himmel abhielt, umso die Ansteckungsgefahr zu vermindern. Da er selbst permanent mit Erkrankten in Kontakt war, wohnte er nicht mehr länger im Pfarrhof, sondern ließ sich abseits des Marktes eine Hütte errichten, wo er sich während des Wütens der Seuche aufhielt. Hier bewahrte er auch das Altarsakrament auf. Von hier aus besuchte er weiter die Kranken, betreute sie seelsorgerisch und versorgte sie mit Nahrungsmitteln und Arzneien. Er sorgte auch dafür, dass die Verstorbenen ein christliches Begräbnis erhielten und brachte sich dabei oft selbst in Lebensgefahr: Einmal ergriffen ihn die Totengräber und schleppten ihn im Glauben, er sei ein Pestkranker, ins Pesthaus. Der Gföhler Rat und bewaffnete Bürger befreiten ihn aus der misslichen Situation.
Als dieselben Totengräber mit den Landgerichtsdienern eine handgreifliche Auseinandersetzung hatten, bei der sie schwer verletzt wurden, wollte der Bader sie nicht behandeln, aus Angst sich mit Pest anzustecken. Der Pfarrer richtete darauf ein Schreiben an den Rat der Stadt Krems mit der Bitte, einen Leichenbeschauer nach Gföhl zu schicken, der die Wunden der Totengräber versorgen sollte. So überlebten die beiden Raufbolde.

Das frühbarocke Gnadenbild „Maria, Heil der Kranken“
ist die Kopie des römischen Gnadenbildes Santa Maria
del Popolo, das den Hochaltar der gleichnamigen Kirche
in Rom ziert. Lange Zeit wurde der Evangelist Lukas
als dessen Maler angenommen. Deshalb genoss diese
Ikone, die ursprünglich in der Capella Sancta Sanctorum
des Lateran aufbewahrt wurde, besondere Verehrung. 

Weiters appellierte er an die christliche Nächstenliebe seiner Schäfchen und initiierte eine Spendenaktion für die von der Pest betroffenen Familien. Mit dem gesammelten Geld sollten Darlehen vergeben werden, mit denen die Kosten für Totengräber, Arzneien und für die zur Stärkung der Erkrankten verabreichten Nahrungsmittel beglichen werden sollten. Dies erleichterte zumindest für den Anfang die wirtschaftliche Belastung.
Wir wissen nur deshalb so genau über die Aktivitäten des Pfarrers Bescheid, weil die Holzhacker des Gföhlerwaldes und der Rat des Marktes Gföhl in zwei gesiegelten Urkunden aus Dankbarkeit seine Taten festhielten. 

Zum Dank für das Erlöschen der Pest gelobten die Gföhler Bürger in der Folge eine Wallfahrt nach Maria Langegg, dem Wallfahrtort im Dunkelsteinerwald, und zum Bründl bei den Kapuzinern in Und bei Krems.
Im Mirakelbuch von Maria Langegg finden wir die Eintragung: „Nicht weniger hat wegen Abwendung der Pestilentzischen Sucht, eine gesambte löbliche Gemeinde zu Gföhl sich Processionaliter, oder Bittgangweiß, sambt einer grossen Wachs-Kertzen (auf welcher der Heil. Martyrer Sebastianus abgemahlen) nach Langegg verlobet, und dem 28. Junij Anno 1681 selbe, als ein Schuldiges Danck-Opfer mit sich anhero gebracht.

Votivbild des Marktes Gföhl, erneuert 1832
Neben einem Kerzenopfer stiftete der Markt Gföhl auch ein Votivbild nach Maria Langegg, das 1832 durch ein neues Bild ersetzt wurde. Es ist jetzt noch im Museum der Wallfahrtskirche zu sehen. Die Wallfahrt nach Maria Langegg wurde bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts durchgeführt. 1959 wurde sie wiederbelebt.

Quelle:
Paul Ney, Die Gföhler Wallfahrt nach Maria Langegg und die Pest der Jahre 1679 und 1680, in: Das Waldviertel 44 (1995), S. 140–148.

Text: Prof. Dr. Elisabeth Vavra




# 14 „Wann die Pest sich erzaigt, was zu thun …“

In der vergangenen Woche habe ich Ihnen erzählt, wie die Behörden ab dem 17. Jahrhundert versuchten, das Einschleppen der Pest und anderer Seuchen zu verhindern.
Was aber war zu tun, wenn trotz aller Maßnahmen die Seuche dennoch ausgebrochen war?
Damit beschäftigt sich der zweite Teil der von Kaiser Ferdinand III. am 15. Dezember 1653 erlassenen „Neuen Infectionsordnung“. In dreizehn Paragraphen werden die wichtigsten Problemfelder beim Auftreten einer Epidemie behandelt. An vorderster Stelle stand die Sorge um das Seelenheil der erkrankten Personen. Die Geistlichen wurden aufgefordert, die Kranken mit den Sakramenten als Trost und Hilfe zu versorgen. Weigerte sich ein Pfarrer oder Priester, so wurden ihm die pfarrlichen Einkommen entzogen. Verfügte die betroffene Pfarre über mehrere Geistliche, so sollte einer für die Betreuung der Erkrankten abgestellt werden, um die Ansteckungsgefahr für die noch Gesunden zu minimieren.


Im nächsten Punkt wurde die Obrigkeit aufgefordert, sich um erfahrene Doktoren zu bemühen; reichten die finanziellen Mittel der Gemeinde nicht, so sollte sie wenigstens Wundärzte, Bader und Beschauer anstellen, die sich um die Erkrankten zu kümmern hatten. Die dabei anfallenden Kosten hatten die Erkrankten zu tragen; im Todesfall wurden die offenen Rechnungen aus der Verlassenschaft abgedeckt. 

Sobald in einem Haus ein Krankheitsfall aufgetreten war, musste das Haus sofort versperrt werden und durfte erst nach 40 Tagen wieder geöffnet werden. Bei Bauernhöfen war das natürlich nicht leicht möglich, da ja das Vieh zu versorgen war. Hier wurden nur die betroffenen Räume verschlossen. Die Verstorbenen wurden von eigens dafür bestimmten Personen sogleich in einem abgesonderten Bereich des Friedhofs bestattet. Der Leichnam, der nur in ein Tuch gewickelt werden durfte, musste mit frischem Kalkwasser übergossen werden; die Grube sollte tief genug sein und sollte gleich zugeschüttet werden.

Das Pestlazarett in Wien – Alsergrund
Votivbild, um 1680 Wien, St. Michael
(© Peter Böttcher)

Kranke sollten, falls möglich, in ein Lazarett gebracht werden. Oft wurden Siechenhäuser zu Pestzeiten in solche Lazarette umgewandelt. Für die noch Gesunden, die in Kontakt mit Erkrankten geraten waren, wurden ebenfalls für 40 Tage aus der Gemeinschaft abgesondert. Für sie schlug man einfache Hütten am Rande der Ansiedlungen auf. Falls die Kranken bzw. die noch nicht Infizierten ihre Häuser nicht verlassen wollten, so wurden sie für 40 Tage in diesen eingeschlossen. Lebensmittel und Arzneien wurden ihnen durch Öffnungen gereicht,  ebenso die Sakramente: Es gab zu Pestzeiten eigene Löffel mit bis zu 40 cm langem Stiel – die sog. Pestlöffel, mit denen die Priester den Eingeschlossenen die Kommunion reichten.
Bevor die verseuchten Häuser nach dem Ende der 40tägigen Quarantäne wieder bezogen werden durften, wurden diese gründlich gesäubert und ausgeräuchert. Alle Gegenstände, mit denen die Infizierten in Kontakt gekommen waren, vor allem Kleider, Pelzwerk, Bett, Leinwand, Stroh, „Fetzwerk“ „und andere gefährliche Fahrnissen, so daß Pestgift leichtlich fangen“ sollten verbrannt werden. Bei schwerer Strafe war es verboten, solche Gegenstände aus Verlassenschaften zu verkaufen.

Die Quarantänevorschriften stellten für die Betroffenen eine schwere Einschränkung dar und führten diese oft an den Rand des finanziellen Ruins; daher war es nur verständlich, dass man beim Auftreten von verdächtigen Symptomen nicht gleich zum Arzt ging. Solches Verhalten gefährdete aber die Gesunden und führten zu einem raschen Ausbreiten der Seuche. Die Infektionsordnung ermahnt daher im vierten Paragraphen dazu, beim geringsten Anzeichen einer Erkrankung – Hitze- oder Kältegefühl, Kopfschmerzen und ähnliche Symptome – sofort den Arzt oder zumindest den Bader zu konsultieren.

Die Landschaftsapotheker in den Vierteln – in Krems, Mistelbach und Wiener Neustadt – wurden angehalten, sich genug Vorräte an notwendigen Arzneimitteln anzulegen. Denn zu Seuchenzeiten sollten man zur Vorbeugung nicht nur auf eine gesunde Ernährung achten, sondern auch vorsorglich die Häuser zweimal täglich ausräuchern – mit Wacholder, Staudenwerk, Schießpulver, Schwefel oder anderen „Pestrauch“. Boden und Wände sollten mit Essig besprengt werden; in den Räumen sollte man frischen Kalk löschen oder einen Ziegel erhitzen und darauf Essig gießen. Dringend gewarnt wurde vor dem Genuss von Branntwein, Schweinefleisch sowie unreifen und wurmstichigen Obst.
Die Obrigkeit wurde aufgefordert, im Seuchenfall alle Zusammenkünfte zu verbieten. Das betraf nicht nur Weinkeller, Wirtshäuser und ähnliche Etablissements, sondern auch Kirchweihfeste, Jahrmärkte oder Märkte. Öffentliche Tänze wurden untersagt ebenso das Auftreten von Spielleuten. Hochzeiten, Kindlmahl und andere familiäre Feiern durften nur im kleinen Rahmen stattfinden. Schulen und Bäder mussten gesperrt werden. Die Kirchen sollten vor und nach der Meßfeier ausgeräuchert werden.

Rauchwerk © thinkstock, velveteye

Ein Verstoß gegen die 40tägige Sperre der Häuser wurde mit schweren Strafen geahndet: Diese reichten von Schandstrafen bis zu Leibesstrafen und Verweisung aus Stadt, Markt oder Herrschaft. Waren die 40 Tage abgelaufen, so mussten die Häuser zunächst ausgeräuchert werden; zur Vorsicht sollte man beim Betreten ein brennendes Licht vor sich hertragen. In jedem Zimmer sollte man aus Wacholder, Stauden, Schießpulver, klein geschnittenem Bockshorn, Meisterwurz, Lorbeer, Salpeter, Schwefel, Bernstein und anderen in Apotheken angebotenen Rauchwerk ein Feuer machen, dann das Zimmer für eine Viertelstunde  verschließen und so den Rauch einwirken lassen. Die Böden, die Einrichtungsgegenstände und aller Hausrat mussten mit einer scharfen Lauge, in der vorher Pestwurz und Kräuter  aufgekocht worden waren, geschrubbt werden. Die Wände mussten vom Verputz befreit und mit frisch gelöschtem Kalk gestrichen werden. In den Truhen aufbewahrte Leinwand musste man 24 Stunden lang in scharfer Lauge einweichen, dann auswaschen und an frischer Luft trocknen. Ähnlich musste man mit den Federbetten verfahren. Die Federn mussten aus den Decken genommen, in Lauge eingeweicht und dann getrocknet werden. Schwieriger war die Reinigung von Stoffen, die man nicht in Lauge waschen durfte, wie Leder oder Seidenstoffe. Hier empfahl die Ordnung das Anfeuchten mit Wasser, das mit Lauge, Salz oder Essig versetzt war, dann das Trocknen an frischer Luft und das Ausräuchern.
Alle Gegenstände, mit denen die Erkrankten in direkten Kontakt gekommen waren, mussten – unabhängig von ihrem Wert – verbrannt werden. Auch hier drohten bei Übertretung wieder schwere Strafen. Ausgenommen davon waren nur Objekte aus Eisen, Zinn, Messing oder anderem Metall sowie Holzwerk. Die durften nach einer gründlichen Reinigung zum Verkauf angeboten werden.
Für die Einhaltung der Infektionsordnung hatten in den Städten und Märkten die Magistrate, auf dem Land die Dorfobrigkeit zu sorgen. Die Grundherren durften sich in die von der Dorfobrigkeit erlassenen Maßnahmen nicht einmischen, sondern mussten auch den notwendigen finanziellen Beitrag dazu leisten.

Quelle: Der Römischen Kayserlichen auch zu Hungarn und Böhaimb etc. königlich Mayestätt, Ferdinandi Deß Dritten etc. Ertzhertzogens zu Oesterreich, Unsers Allergnädigsten Herrn, newe Infections-Ordnung, wie es ins gemein auff dem Landt in den Infections-Sachen zuhalten. Wienn 1654.

Text: Prof. Dr. Elisabeth Vavra


#13 „Wie die Pest in dem Landt zu verhütten.“

Pestsäule mit Bild der Dreifaltigkeit, 1713 
Waitzendorf (Gemeinde Schrattenthal),
Foto: © Elisabeth Vavra
An vielen Orten in Niederösterreich erinnern noch heute steinerne Denkmäler und Votivbilder in Wallfahrtskirchen an die Schrecken der Pestepidemien. In der frühen Neuzeit war der niederösterreichische Raum von zwei schweren Pestepidemien betroffen: die erste verbreitete sich in den Jahren 1679 bis 1681; die zweite setzte um 1708 im Norden Europas ein und breitete sich dann über Böhmen und Mähren bis nach Österreich und Ungarn aus. Die letzten Krankheitsfälle  traten um 1714 auf. Insgesamt fielen diesem Seuchenzug in Europa mehr als eine Million Menschen zum Opfer.  In Niederösterreich tobte die Epidemie besonders in den Jahren 1712/13.
So schrecklich sich diese beiden großen Epidemien auch auf die Bevölkerung auswirkten, so zeigen die Quellen doch, dass sich wenigstens die behördlichen Maßnahmen im Vergleich zum Mittelalter deutlich verbessert hatten. Die Medizin allerdings stand der Seuche weiterhin hilflos gegenüber.



Inschrifttafel der Pestsäule, 1713
Waitzendorf (Gemeinde Schrattenthal),
Foto: Elisabeth Vavra

Langjährige Beobachtungen der seit dem 14. Jahrhundert immer wieder auftretenden Pestepidemien hatten zur Entwicklung eines „Abwehrsystems“ geführt, das die Ausbreitung der Seuche zwar nicht verhindern,  aber eindämmen konnte. 1540 erschien die erste „Infektionsordnung“, die das Verhalten bei Gefahr oder Ausbruch der Krankheit regulierte. Für die Epidemien der Jahre 1679 bis 1681 waren die am 15. Dezember 1653 von Kaiser Ferdinand III. und 1679 von Kaiser Leopold I. erlassenen Ordnungen maßgeblich.



Infektionsordnung Kaiser Ferdinands III.
Auflage Wien 1656, Stift Altenburg, Archiv
Foto: Elisabeth Vavra


Was enthalten nun diese Ordnungen?
Die Ordnung von 1653, die 1654 in Druck erschien, beschäftigt sich im ersten Teil mit den Möglichkeiten, den Ausbruch der Pest oder anderer ansteckender Krankheiten zu verhindern und  im zweiten Teil mit den zu treffenden Maßnahmen, wenn eine Seuche bereits ausgebrochen war. Die „abscheuliche Seuch der Pestilenz gleich wie andere Plagen“ wurden, wie die Einleitung der Seuchenordnung betont,  als Strafe Gottes für die Sünden und Laster der Menschen angesehen, deshalb sollte die Geistlichkeit in ihren Predigten die Menschen zu  gottgefälliger Lebensführung und Bußfertigkeit anhalten. Bei den Gottesdiensten sollten eigene Gebete zur Abwendung der Pest gesprochen werden. Die Hausväter wurden ermahnt, in ihren Häusern auf Zucht und Ordnung zu achten. An Sonn- und Feiertagen durften die Wirtsleute, die Leutgeb, die Wein-, Bier- und Metkeller erst nach dem Gottesdienst ausschenken; im Sommer mussten sie um neun Uhr, im Winter um acht Uhr schließen.

Maria als Fürbitterin für die Menschheit
Pestsäule in Zistersdorf, 1747
Foto: Elisabeth Vavra


Im nächsten Paragraphen warnt die Ordnung vor übermäßigen Essen und Trinken, vor dem Genuss von Schweinefleisch und wurmstichigem, schädlichen Obst, da durch solche Verhaltensweisen der Körper geschwächt und anfällig für Krankheiten wird.

Eine wichtige Maßnahme setzte die Behörde durch die strenge Kontrolle einreisender Personen.  Jeder/jede musste nachweisen, dass er/sie sich die letzten vierzig Tage in einem seuchenfreien Gebiet aufgehalten hatte. Wenn Seuchenfälle bekannt wurden, dann sollte man die Namen der betroffenen Orte und Gegenden öffentlich bei den Stadt- und Markttoren oder Grenzschranken anschlagen. Wenn jemand aus einer betroffenen Region einreisen wollte, so musste er/sie sich für vierzig Tage in einer Quarantänestation aufhalten. Die Orte, in denen die Pest ausgebrochen war, mussten auch der NÖ Regierung übermittelt werden. Händler, die ihre Waren in die Städte und Märkte bringen wollten, mussten sich ebenfalls mit „Unbedenklichkeitszeugnissen“ ausweisen. Ebenfalls mussten sie eine Unbedenklichkeitserklärung für ihre Ware abgeben.
Eine wichtige Rolle spielte dabei auch die sog. Militärgrenze, die zur Abwehr der Türkengefahr errichtet wurde. Unter Kaiser Ferdinand I. in den 20er Jahren des 16. Jahrhunderts begonnen, erstreckte sie sich bis zum Ende des 17. Jahrhunderts von der Adria bis zur Drau. Der schmale Sicherheitsstreifen wurde bis 1742 weiter ausgebaut. Zur Zeit der größten Ausdehnung erstreckte sich die Militärgrenze über eine Länge von 1750 km und umfasste mehr als 33.000 km2. In regelmäßigen Abständen befanden sich Quarantänestationen für Einreisende.

Der Pestheilige Sebastian
Pestsäule in Zistersdorf, 1747
Foto: Elisabeth Vavra
Gewarnt wird in der Infektionsordnung auch vor „gefährlichen Mobilien“, durch die die Seuche verbreitet wurde. Gemeint sind damit Möbel, Betten, Leinwand, Kleider, Pelzwerk und ähnliches, das in Verdacht stand, das Pestgift leicht aufnehmen zu können. Tauchte verdächtige Ware auf, durfte sie solange nicht verkauft werden, bis ihre Unbedenklichkeit  nachgewiesen war.

In der Ordnung wurden bestimmte Orte als Aufenthaltsorte für die Quarantäne festgelegt: Guntramsdorf oder Wienerherberg für das Viertel unter dem Wienerwald, Tulln oder Königstetten für das Viertel ober dem Wienerwald, Retz oder Korneuburg für das Viertel unter dem Manhartsberg sowie Waidhofen an der Thaya für das Viertel ober dem Manhartsberg.

Besonders ausführlich wird im achten Punkt auf Sauberkeit als wirksames Mittel zur Verhütung der Ansteckung und Erhaltung der Gesundheit hingewiesen: „ sich auch niemandt unterstehen, sonderlich in Stätt, und Märckten, wo gepflasterte oder sonsten Haubt-Gassen oder Strassen seyn, die Unsauberkeyten, sie seyen nun von Blut, Eingewaid, Bainern von getödten Viech, Scherben, Krautpletschen oder ander Unfladt, wodurch Gestanck und Gefahr entstehen und erwachsen kann, auff die Gassen auszuschütten, weniger todtes Viech als Hund, Katzwn, Hüener oder anders dahin zu werffen,“ Über Dienstboten, die gegen diese Gebote verstießen, wurde eine Schandstrafen verhängt.
Die Obrigkeit wurde angehalten, Kreuze aufzurichten, an die die straffälligen Dienstboten „gespannt“ wurden. Die Dienstgeber, die ihre Aufsichtspflicht verletzt hatten, wurden überdies zu Geldstrafen verurteilt, die an die Siechenhäuser abzuführen waren.

Es geht in der Ordnung aber nicht nur um Sauberkeit in den Gassen, sondern auch in den Häusern. Die Abfälle sollten in den Häusern gesammelt werden und dann mit Butten oder Schubkarren an einen von der örtlichen Behörde genehmigten Platz gebracht werden, der möglichst abgelegen sein musste. Die Rauchfangbeschauer, die ihre jährlichen Rundgänge durch die Häuser machen mussten, oder andere von der Behörde damit Beauftragte sollten in Zukunft auch auf die Sauberkeit in den Häusern achten und Auffälligkeiten zur Anzeige bringen: „So sollen auch nit allein die Zimmer selbsten, sondern auch die Fürheuser, Stiegen, Boden, Kuchel, Stallungen und Haimbligkeiten [=Abort] sauber gehalten, zum öfftern gewaschen, und außgekehrt werden […].

Der Pestheilige Rochus
Pestsäule in Zistersdorf, 1747
Foto: Elisabeth Vavra

Der letzte Paragraph des ersten Abschnittes widmet sich dem „Bettelgesind“ und den von ihnen ausgehenden Gefahren. Um die „würdigen“ von den „unwürdigen“ Bettlern zu trennen, die fremden umherschweifenden von den ortsansässigen Armen, wurden Bettelzeichen oder -zettel vorgeschrieben: „Sollen denen würdigen gewisse Zaichen und Zettl, darinnen sie mit Namen, Alter und Gestalt beschriben, außgethailt, und daß sie in ihren Dörffern und Pfarren verbleiben, angehalten.“ Wenn ausgewiesene „unwürdige“ Bettler wieder in einer Gemeinde aufgegriffen wurden, so sollten sie „an das Kreutz, oder Pranger gestellt, mit Gefängnuß belegt, oder auch in Eysen geschlagen, und zur Arbeit angehalten“ werden.

Mit diesen Maßnahmen versuchten die Behörden die Einschleppung der Pest oder anderer Seuchen zu verhindern. Welche Anordnungen in Kraft traten, wenn die Seuche einmal ausgebrochen war, darüber erfahren Sie mehr in der kommenden Woche. 

Text: Prof. Dr. Elisabeth Vavra

Quelle: Der Römischen Kayserlichen auch zu Hungarn und Böhaimb etc. königlich Mayestätt, Ferdinandi Deß Dritten etc. Ertzhertzogens zu Oesterreich, Unsers Allergnädigsten Herrn, newe Infections-Ordnung, wie es ins gemein auff dem Landt in den Infections-Sachen zuhalten. Wienn 1654.

#12 "Dr. Schnabel" geht um ...

Der Ausbruch der Pest 1347 standen Behörden wie Mediziner hilflos gegenüber. Ein Gefühl der Ohnmacht verbreitete sich in den Städten. Eine anschauliche Schilderung dieser Stimmung vermittelt uns Giovanni Boccacio in seinem „Decamerone“, dessen Rahmenhandlung im Florenz zur Zeit der Pest 1348/49 spielt:

„Zur Heilung dieser Krankheit schien weder der Rat eines Arztes noch irgendeine Arznei etwas zu vermögen oder von Vorteil zu sein; ob es nun die Natur der Seuche nicht zuließ, oder ob die Ärzte, deren Zahl außer den studierten Leuten ebenso durch Frauen wie durch Männer, die nie einen Unterricht in der Arzneikunst gehabt hatten, übermäßig groß geworden war - in ihrer Unwissenheit nicht erkannt, woher sie rühre, und folglich nicht die richtigen Mittel anwandten, jedenfalls genasen nur sehr wenige, während schier alle binnen drei Tagen, der eine rasche, der andere langsamer und die meisten ohne irgendein Fieber oder einen sonstigen äußeren Anlass starben.“

 
Darstellung von Pesttoten auf einem Freskofragment
Hans Stocinger, 1407 Terlan, Pfarrkirche (© IMAREAL)

An allen Universitäten befassten sich gelehrte Mediziner mit den Ursachen für den Ausbruch der Seuche und mit Möglichkeiten der Bekämpfung. Im Auftrag des französischen Königs verfasste die medizinische Fakultät der Universität zu Paris ein Pestgutachten, in dem sie zu dem Schluss kam, dass eine kosmische Konstellation - also eine besondere Stellung der Planeten zueinander - an dem Ausbruch der Seuche schuld sei. Die Konjunktion von Saturn, Mars und Jupiter hätte zu einem Übermaß an heißen Kräften geführt, dadurch wäre das Wasser auf Erden stärker als üblich verdampft und üble Dämpfe wären so entstanden. Diese Theorie basiert auf einer seit der Antike verbreiteten Vorstellung vom Miasma, der verdorbenen Luft, die vom Menschen eingeatmet wird und so zum Auslöser von Krankheitsprozessen im Körper wird. Um sich vor Ansteckung zu schützen, empfahlen die Mediziner in erster Linie diätische Maßnahmen - und rieten zur Flucht aus den betroffenen Städten. Wer dennoch bleiben musste, sollte sich durch das Verbrennen bestimmter Kräutermischungen in Räucherpfannen, durch das Tragen von Riechäpfeln und durch die Einnahme von Theriak schützen. Theriak war ein seit der Antike bekannte Mixtur, die als Allheilmittel galt. Rezepte für deren Herstellung wurden noch im 19. Jahrhundert verbreitet, wie etwa im 1882 veröffentlichen „Deutschen Arzneibuch“: Die Inhaltsstoffe waren in dieser Rezeptur: 1 Teil Opium,         3 Teile spanischen Wein, 6 Teile Angelikawurzel, 4 Teile Rad. Serpentariae (Wurzel der Virginenhohlwurzel, Aristolochia serpentariae), 2 Teile Baldrianwurzel, 2 Teile Meerzwiebel, 2 Teile Zitwerwurzel, 9 Teile Zimt, 1 Teil Grüner Kardamom, 1 Teil Myrrhe, 1 Teil Eisenvitriol und 72 Teile Honig. In früheren Jahrhunderten fanden sich noch andere Substanzen im Theriak wie etwa Schlangengifte.
 

Von dem sterben oder pestilentz dieseer welt
Holzschnitt aus Franciscus Petrarcha, Von der Artzney
bayder Glück, des guten vnd widerwertigen,
gedruckt bei Heinrich Steiner, 1532 (© IMAREAL)

Die Bekämpfung der Pest öffnete nicht nur akademischen Medizinern eine reich sprudelnde Einnahmequelle; Einblattdrucke und populärmedizinische Traktatchen ließen die Kassa der Buchdrucker klingeln. Die Mittel gegen die Pest, die sie anpriesen, waren mehr als fragwürdig. Ähnlich obskur erscheinen uns heute aber auch die Anweisungen, die von medizinischen Autoritäten ihren Zunftgenossen gegeben wurden: Die Ärzte verordneten ihren pestkranken Patienten Aderlass und Klistiere, beides sollte den Körper reinigen. Mit Brenneisen und Messer mussten die Bader unter der Aufsicht der Ärzte die Pestbeulen öffnen. Die akademischen Ärzte beschränkten sich auf Harnschau, Pulsmessen und die Beobachtung des Kranken. Es gab auch genaue Anweisungen, wie sich die Ärzte beim Hausbesuch verhalten sollten: Zunächst mussten im Krankenzimmer alle Fenster und Türen geöffnet werden, damit die krankmachende Luft entweichen konnte. Der Arzt sollte weder den Kranken noch das Bett oder die Bettwäsche berühren. Die Harnschau sollte er besser im Freien vornehmen und dabei Handschuhe tragen. Um das Einatmen des Pesthauches zu vermeiden, sollte er sich zumindest einen mit Essig und pulverisierten Gewürznelken getränkten Schwamm vor Nase und Mund halten.
 

Bisamäpfel trug man als Anhänger an Gürteln
oder an Rosenkränzen. Hier hat ein geistlicher
Stifter seinen Rosenkranz mit Bisamapfel auf
dem Betpult abgelegt. Salzburg, um 1510.
Salzburg, St. Peter, Stiftsgalerie (© IMAREAL)
In der frühen Neuzeit wurde die Schutzbekleidung der Ärzte weiter perfektioniert. Die Ärzte - „Dr. Schnabel“ nach ihrem Mundschutz genannt - trugen nun ein langes Gewand aus undurchlässigem Stoff oder Leder, dazu Handschuhe und Hut. Ein Stab in der Hand zeichnete sie als Pestarzt aus. Vor dem Gesicht trugen sie eine Schnabelmaske, in die Riechstoffe als Filter eingefüllt wurden. Vor den Augen trug man Gläser aus Kristall, da man die Ansteckung durch Blickkontakt fürchtete.
 

Der Großteil der Bevölkerung konnte sich im Krankheitsfall keinen „Bucharzt“ leisten. Das Volk schöpfte für die Vorbeugung und Behandlung der Pest aus dem reichen Schatz der Volksmedizin und des Aberglaubens. Mit Amuletten versuchte man sich vor der Ansteckung zu schützen. War die Krankheit bereits ausgebrochen, so räucherte man das Haus mit Wacholder, Enzian oder Eberwurz. Man reichte schweißtreibende Substanzen aus Bibernelle und Pestwurz. Zeigen sich die Pestbeulen, dann legte man Frösche auf diese, um sie günstig zu beeinflussen. Auch zum Baldrian griff man, um die Pestdämonen abzuwehren.
Vielleicht noch größer als die demographischen Auswirkungen auf die Gesellschaft waren die psychologischen. Hand in Hand mit der Wirkungslosigkeit der medizinischen Betreuung ging eine Zerrüttung der Gesellschaft einher; alle Regeln, die zuvor das Zusammenleben der Menschen bestimmt hatten, traten außer Kraft: Verwandte verweigerten die Pflege; Pesthäuser wurden geplündert; Tote ohne Glockengeläut und Leichenzug in Massengräbern verscharrt. Wer es sich leisten konnte, floh aus den betroffenen Orten. Wer blieb, betäubte sich und versuchte die vielleicht letzten Stunden seines Lebens exzessiv zu genießen. So berichtet ein Chronist von der Pest in Genf im Jahre 1530:




Pestwurz, Kupferstich aus Wolf Helmhardt von Hohberg,
Georgica curiosa aucta, Auflage von 1716
St. Pölten, NÖ Landesbibliothek  (© IMAREAL)

Unterdessen die Pest wütete, sah ich, wie vor mir mindestens sieben oder acht Körper abtransportiert wurden. Aber hätten Sie die Mädchen gesehen! Sie tanzten zu den Virelais (= mittelalterliches Tanz- und Liebeslied) und sangen Fastnachtslieder. Eine von ihnen wurde von Fieberschauern so geschüttelt, dass es sie zu Boden streckte, man musste sie nach Hause tragen, ohne dass die anderen ihren Tanz auch nur unterbrochen hätten.

Welche Mittel die Obrigkeit in der frühen Neuzeit einsetzte, um Pestepidemien zu verhindern, davon lesen Sie im nächsten Blog.
   
Text: Prof. Dr. Elisabeth Vavra




#11 Der Schwarze Tod kam über Nacht

 „Beulen entwickeln sich an verschiedenen Körperstellen: an den Geschlechtsorgangen, bei manchen Betroffenen an den Oberschenkeln oder Armen und bei anderen am Hals. Zunächst sind diese etwa so groß wie eine Haselnuss, und der Patient wird von heftigen Fieberschauern erfasst, die ihn bald darauf so schwächen, dass er sich nicht mehr auf den Beinen halten kann und ans Bett gefesselt ist. Das zunehmende Fieber raubt ihm alle Kräfte und allen Lebensmut. Die Beulen wachsen auf die Größe einer Walnuss an und sind schließlich so groß wie ein Hühner oder Gänseei. Sie sind überaus schmerzhaft, verunreinigen die Körpersäfte und lassen den Patienten Blut spucken. Das Blut steigt von der befallenen Lunge in den Hals hinauf und die Fäulnis ergreift und zerstört den gesamten Körper. Drei Tage siecht der Patient dahin, spätestens am Viertel erliegt er der Erkrankung.“ 

Die Heiligen Sebastian, Rochus und Wolfgang
Steiermark, um 1480, Bad Aussee,
Spitalskirche © IMAREAL
So beschreibt 1347 der Franziskanermönch Michele da Piazza das Auftreten einer neuen Krankheit in Sizilien. Im Herbst 1347 hatten genuesische Schiffe den Pesterreger von der Krim nach Italien gebracht. Hilflos war man dieser Seuche ausgeliefert. Rasant breitete sie sich über Europa aus und dezimierte die Bevölkerung. Florenz - für das späte Mittelalter eine Großstadt mit ungefähr 100.000 Einwohnern - schrumpfte fast auf die Hälfte seiner Bewohner zusammen; ebenso widerfuhr es Venedig. Die sich ausbreitende Seuche gelangte auf dem Seeweg nach Westen und von dort in das nördliche Europa. Auf dem Landweg breitete sie sich über die Alpen Richtung Mitteleuropa aus. Allerdings hatte sie hier, wie neueste Forschungen zeigen, nicht so weit reichende Bevölkerungsverluste zur Folge. Nicht alle Gebiete wurden betroffen.  Schwerwiegender war der Umstand, dass es mit der ersten Pestwelle um 1347/1350 nicht getan war. In fast regelmäßiger Folge traten Epidemien auf. Die Freie Reichsstadt Nürnberg etwa, eine der bevölkerungsreichsten Städte und Handelsmetropole am Schnittpunkt wichtiger Verbindungsrouten, erlebte zwischen 1359 und 1543 fünfzehn Epidemien. Auch in anderen wichtigen Zentren wie Augsburg tauchte der Erreger in Abständen von zehn Jahren immer wieder auf und dezimierte die Bevölkerung. Ganz ähnlich erging es vielen Städten. 

Schutzmantelmadonna, Thomas von Villach, um 1460
Gerlamoos, Filialkirche St. Georg © IMAREAL
Das plötzliche Auftreten der Seuche und die kurze Dauer vom Ausbruch der Krankheit bis zum Tod versetzten die Menschen in Angst und Schrecken. Als die wahre Ursache der Seuche wurde der Zorn Gottes über die Sündhaftigkeit der Welt angesehen:
„Ihr müsst die Ursachen der Pest heilen, die da sind die abscheulichen Sünden, die begangen werden: Blasphemie gegen Gott und die Heiligen, die Schulen der Sodomie, die unerhörte Wucherei … Handelt, handelt, und ihr werdet mit der Pest fertig,“ so tönte es in den Kirchen von den Kanzeln. 


Pfeilmartyrium des heiligen Sebastian
Niederösterreich, um 1490
Stift Herzogenburg, Galerie © IMAREAL
Man suchte Zuflucht bei den Heiligen, gelobte Wallfahrten oder Prozessionen und hoffte, so von einer Ansteckung verschont zu bleiben oder zumindest die Ausbreitung einzudämmen. In der Mitte des 14. Jahrhunderts gab es aber noch keinen für die Pest „zuständigen“ Heiligen. So musste man passende finden. In der Ikonographie der Pest wurde die Seuche durch von Gott verschossene Pfeile visualisiert. Als Schutzheiliger bot sich einer an, der ein Pfeilmartyrium überlebt hatte: Die Wahl fiel daher auf den heiligen Sebastian. Der heilige Sebastian kam angeblich in Narbonne zur Welt. Er wuchs in Mailand als Christ am Ende des 3. Jahrhunderts auf. Als Kommandant der kaiserlichen Leibgarde in Rom versuchte er, seinen in Gefangenschaft geratenen Glaubensbrüdern und -schwestern zu helfen. Das erweckte das Misstrauen des Kaisers. Sebastian wurde vom Dienst suspendiert und zum Tode verurteilt. Die Hinrichtung sollte mit Pfeilen erfolgen. Man band ihn an einen Baum und beschoss ihn mit Pfeilen. Sebastian überlebte und eine fromme Witwe namens Irene pflegte ihn gesund. Sebastian trat dann wieder in der Öffentlichkeit auf; der Kaiser ließ ihn abermals verhaften und erschlagen. Den Leichnam warf man in die cloaca maxima. Seiner Hilfe gegen die Pest wurde die Stadt Rom erstmals im 7. Jahrhundert  während der ersten großen Pestepidemie in Europa teilhaftig. In feierlicher Prozession trug man damals die Reliquien des Heiligen rund um die Stadt und durch die Gassen - und siehe, die Pest erlosch. Was lag näher, als sich beim Ausbrechen der Seuche im 14. Jahrhundert wieder an diesen Heiligen zu erinnern. Hilfe erhoffte man sich natürlich auf von Maria. Oft sind es Darstellungen der sog. Schutzmantelmaria, die an diese ihre Funktion erinnern. Der Mantel, unter dem die Christenheit, vertreten durch Repräsentanten aller Stände, Zuflucht finden, wehrt die Pestpfeile ab, die Gottvater oder Christus erzürnt vom Himmel auf die Menschheit schleudern.

Der heilige Rochus erkrankt an der Pest
Nürnberg, um 1480
Nürnberg, St. Lorenz © IMAREAL
Ein dritter im Bunde ist der heilige Rochus, der selbst als Pestkranker dargestellt wird. Er wurde um 1295 in Montpellier in Südfrankreich geboren. Zunächst studierte er Medizin, dann aber verschenkte er seinen Besitz an die Armen und begab sich auf Pilgerschaft. Auf seiner ersten Reise gelangte er nach Rom, pflegte dort Pestkranke und heilte sie. Auf der Rückreise in seine Heimat erkrankte er selbst in Piacenza an Pest. Dem Tode nahe retteten ihn ein Engel, der ihm Mut zusprach, und ein Hund, der ihn mit Brot versorgte. Als er endlich seine Heimatstadt erreichte, erkannte ihn dort niemand; man verdächtigte ihn, ein Spion zu sein und warf ihn in den Kerker, wo er im Alter von 32 Jahren verstarb. 1485 gelangten seine Reliquien nach Venedig, in eine Stadt, die besonders durch die wiederholten Pestepidemien im Spätmittelalter zu leiden hatte. Seit 1520 befinden sie sich in der Kirche der Erzbruderschaft San Rocco. 1576 wurde Rochus neben Markus zum zweiten Schutzpatron der Stadt. 
Aber nicht nur das Spätmittelalter kannte die Pest. Zu weiteren schweren Epidemien kam es in den 70er und 80er Jahren des 17. Jahrhunderts und dann noch einmal zu Beginn des 18. Jahrhunderts zwischen 1708 und 1714. Zeugen dieser letzten beiden Epidemien sind die zahlreichen Pestsäulen, die zum Dank für das Erlöschen der Seuche gestiftet wurden.
Welche Maßnahmen man aus medizinischer Sicht gegen die Pest empfahl und welche Schritte die Obrigkeit unternahm, um die Ausbreitung einzudämmen, davon lesen Sie im kommenden Blog.

Text: Prof. Dr. Elisabeth Vavra

#10 Geißeln der Menschheit – die Lepra


In den letzten Tagen macht eine Kinderkrankheit Schlagzeilen: Berlin steht im Bann einer Masernepidemie. Ein Kleinkind ist der Krankheit sogar erlegen. Hand in Hand mit diesen Ereignissen flammt wieder die Diskussion zwischen Befürwortern und Gegnern von Impfungen auf. Die einen warnen vor Impfkomplikationen, die anderen vor der Gefahr von weiträumigen Epidemien, da einerseits Impfmüdigkeit herrscht, andererseits durch die Zuwanderung zahlreiche Menschen ohne Impfschutz, Erwachsene wie Kinder, nach Europa kommen. Die Fortschritte in der Medizin können heutzutage meist Komplikationen während einer Masernerkrankung hintanhalten, in der Vergangenheit vor der Entdeckung von Antibiotika, forderten auch Kinderkrankheiten zahlreiche Opfer.

Aber es waren nicht nur Kinderkrankheiten. In regelmäßigen Abständen verbreiteten sich Infektionskrankheiten, oft mit erschreckender Geschwindigkeit, in unseren Regionen. Die einen traten epidemisch mit hohen Sterblichkeitsraten auf wie etwa Pest oder Cholera, andere befielen den Einzelnen und führten zu langem Siechtum. Eine solche Krankheit war die Lepra, im Mittelalter Aussatz genannt. 


Hl. Franziskus küsst einen Aussätzigen, Böhmen, 14. Jh.
© IMAREAL
Sie ist eine der ältesten bekannten Krankheiten; eine ihrer ersten Erwähnungen findet sie in einem altägyptischen Papyrus medizinischen Inhalts, dem Papyrus Hearst, um 1500 v. Chr. entstanden. Wir kennen die Krankheit aus dem Alten und Neuen Testament: Hiob wird als Prüfung Gottes vom Aussatz befallen; Jesus heilt Aussätzige. Den Entstehungsherd der Krankheit nimmt man in Ostafrika oder in Indien an. Mit den Wanderbewegungen der Menschheit breiteten sich die Bakterien, die die Krankheit verursachen, aus. 
In der klassischen Antike – in Griechenland und Rom – scheint sie relativ häufig vorgekommen zu sein. Auch bei den Langobarden im 7. Jahrhundert kam sie vor. Ihre weitere Verbreitung kann man im Mittelalter dann durch das Entstehen von Versorgungsheimen für Aussätzige, den sog. Leprosorien, verfolgen. Einen Höhepunkt erreichte die Verbreitung der Krankheit im 13. Jahrhundert. Ab dem 16. Jahrhundert trat sie nur mehr äußerst selten auf. Ein Grund für die rückläufige Tendenz war sicher die Verwahrung der Erkrankten in abgesicherten Bereichen und auch der Umstand, dass die Krankheit im Gegensatz zu anderen Infektionskrankheiten nicht sehr ansteckend ist. 


Der Krankheitsverlauf ist schleichend. Durch die Infektion mit dem Bakterium Mycobacterium leprae sterben die Nerven ab; durch eine Verdickung des Blutes werden die Blutgefäße verstopft und die Patienten fühlen an den betroffenen Stellen weder Kälte, Wärme noch Schmerzen. Verletzungen werden nicht bemerkt und führen so zu Sekundärinfektionen. Körperteile sterben ab; es kommt zu Verunstaltungen und Verstümmelungen. 


Den Namen „Aussatz“ erhielt die Krankheit, weil die Betroffenen aus der Gemeinschaft der Gesunden ausgeschlossen wurden und vor den Mauern der mittelalterlichen Städte in den abgeschlossenen Leprosorien leben mussten. Leprakranke galten als tot. Bevor sie in den Leprosorien Aufnahme fanden, wurden sie in einem Zeremoniell, das dem der Totenfeier glich, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Der Erkrankte regelte seinen Nachlass, man feierte die Totenmesse und begleitete ihn unter Glockengeläute und Gebeten aus der Stadt zu seiner neuen Bleibe. Das Leben im Leprosenhaus war wie das in einem Kloster organisiert. Die Insassen mussten eine typische Kleidung tragen, um für jeden deutlich erkennbar zu sein. Begaben sie sich in die Stadt, mussten sie die anderen Passanten mit einer Klapper oder einem Horn auf sich aufmerksam machen. Sie mussten die Nähe von öffentlichen Brunnen meiden, durften keine Waren berühren und keine Gasthäuser 

Aussätziger mit Klapper , Maria Saal,
um 1510  © IMAREAL
betreten. Aussätzige lebten von der Mildtätigkeit ihrer Mitmenschen. Leprosenhäuser wurden in Stiftungen und Testamenten gern bedacht, erhofften sich die reichen Mitbürger doch durch solche Mildtätigkeit Rettung für ihre Seele und Minderung der Sündenschuld.
Da man im Mittelalter der Meinung war, dass der Aussatz hochansteckend wäre, regelte die Obrigkeit genau den Umgang mit Aussätzigen. Konzilsbeschlüsse beschäftigten sich damit ebenso wie die Gesetze der Langobarden oder Karolinger. Um 1200 gab es allein in Frankreich 2000 Leprosorien. Die hohe Zahl, die für Europa daraus hochzurechen ist, kann man leider nicht nur als Beweis für ein häufiges Auftreten interpretieren, sondern auch als Beleg für zahllose Fehldiagnosen. Denn die Diagnose „Aussatz“ wurde sehr rasch, beim ersten Auftreten von Veränderungen der Haut, Ausschlägen oder Geschwüren gestellt. Waren es zunächst Richter, die die Diagnose stellten, so wurden dazu später die Leiter der Leprosenhäuser, die Meister, herangezogen. In der Folge ging die Kompetenz auf die Wund- und Stadtärzte über, die die für den Betroffenen schwerwiegende Diagnose zu stellen hatten. Diese überprüften anhand eines Kriterienkataloges, der verschiedene Stadien der Erkrankung und des Verlaufs unterschied sowie sichere und unsichere Anzeichen des Aussatzes anführte, ob die Krankheit vorlag, was im 15. Jahrhunderts immerhin noch in etwa 10 % der vorgeführten Betroffenen der Fall war. Untersuchungen, die man dabei durchführte, waren etwa das Stechen mit der Nadel, um das Schmerzempfinden zu überprüfen oder die Suche nach Geschwülsten im Ohr und auf der Zunge. Man kontrollierte die Kopfhaut, da sich hier die Krankheit früh durch Schwellungen oder Ausfallen der Haare bemerkbar machte. Auch eine heisere Stimme war verdächtig. Man muss kein Mediziner sein, um zu erkennen, dass all diese Symptome auch bei anderen Krankheiten auftreten können.


Die hl. Elisabeth pflegt einen Aussätzigen,
Slowakei, Ende 15. Jh. © IMAREAL
Für die Ursache der Krankheit hatte man die unterschiedlichsten Erklärungen: die einen meinten, dass falsche Ernährung Verursacher sei. Man warnte vor dem Genuss von Pferdefleisch und vor übermäßig gewürzten Speisen. Andere machten den Lebenswandel dafür verantwortlich: Aussätzige galten als verbrecherisch, zügellos und lasterhaft. Man fürchtete ihren bösen Blick und verdächtige sie der Brunnenvergiftung.
Eine soziale Besserstellung erfuhren Aussätzige erst durch die Bettelorden, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, auch den Ärmsten der Armen zu dienen – und das waren im Mittelalter unzweifelhaft die Aussätzigen. Die Tafeln der Flügelaltäre in den Kirchen zeigten nun auf einmal Heilige, etwa Franziskus, Ludwig oder Elisabeth, wie sie sich um die Aussätzigen kümmerten, ihre Wunden wuschen, ihnen zu essen und zu trinken gaben. Aus dem Ausgestoßenen wurde ein Mensch, an dem jeder Christ die Werke der Barmherzigkeit zu üben hatte.    


Mit dem 16. Jahrhundert war die Krankheit zumindest in Mittel- und Westeuropa eingedämmt. Durch die Kolonialisierung gelangte der Erreger nach Westafrika und Amerika, und weiter in die Karibik und nach Brasilien. Noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es Leprafälle in Skandinavien, auf Island und der Iberischen Halbinsel, in der Provence und an den italienischen Küsten, in Griechenland und auf den Inseln des Mittelmeers, wie Meyers Konversationslexikon von 1888 berichtet. In Norwegen zählte man 1862 noch 2119 Aussätzige bei nicht ganz 2 Millionen Einwohnern. Heute finden sich die meisten Krankheitsfälle noch in Asien, hier besonders in Indien, gefolgt von Südamerika. Die Tendenz ist stark rückläufig. Laut WHO erkrankten 2012 „nur mehr“ 232.857 Menschen an Lepra (http://www.who.int/lep/en/).

Text: Prof. Dr. Elisabeth Vavra

#9 Letzte Hoffnung - Eiserne Lunge


Zunächst trat der Virus nur vereinzelt auf: Der schottische Dichter Sir Walter Scott war eines der ersten namentlich bekannten Opfer der neuen Krankheit, der man den Namen „Kinderlähmung“ gab, da meist nur Kinder oder Jugendliche ihr zum Opfer fielen. Scott war zwei Jahre alt, als er 1773 daran erkrankte. Zurück blieb ein gelähmtes Bein. Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts breitete sich der Virus alle  fünf bis sechs Jahren – meist zur Sommerszeit – epidemisch in Europa und Nordamerika aus. 1914 starben allein in den USA 27.000 Menschen an Polio.
 

Die Krankheit Poliomyelitis beginnt wie eine Grippe mit hohem Fieber und Kopfschmerzen; dann setzt Nackensteifigkeit ein. In diesem Stadium entscheidet sich das weitere Schicksal der Erkrankten. Sind die körpereigenen Abwehrreaktionen zu schwach, greift der Poliovirus die Nervenbahnen an, die für die Muskelsteuerung zuständig sind. Es kommt zu unterschiedlich starken Lähmungserscheinungen. Je nach Schwere des Falles kann auch das die Atmung steuernde Zwerchfell davon betroffen sein. Die Erkrankten sterben eines qualvollen Erstickungstodes. 
Ausstellungsansicht "Bader, Medicus, Primar" mit
Eiserner Lunge, Foto: H. Lackinger
Bis 1928 gab es in einem solchen Fall keine Hilfe. Wie so oft bei Erfindungen kam der Zufall zur Hilfe. Um 1920 beauftragte die New Yorker Gas- und Elektrizitätsgesellschaft den Ingenieur Philip Drinker, der an der Medizinischen Fakultät der Harvard Universität in Boston arbeitete, mit der Entwicklung eines Gerätes zur Behandlung von Opfern einer Gasvergiftung oder eines Stromschlages. Drinker entwickelte ein Gerät, das den Patienten/die Patientin mittels Aufbau eines Unter- bzw. Überdruckes beatmete. Der Körper liegt in einem Hohlzylinder, aus dem nur der Kopf herausragt. Um den Hals liegt ein luftdichter Verschluss. Das Gerät erzeugt einen Unterdruck. Dabei drückt der Umgebungsdruck Außenluft durch Nase und Mund des Patienten in den Lungen. Die Ausatmung erfolgt durch den Aufbau eines Überdrucks in der Kammer. Mit Über- und Unterdruck wird die Lungenfunktion erhalten. Drinker testete das Gerät 1928 im Selbstversuch. Er begann zwar zu hyperventilieren, aber das System funktionierte. Kurz danach wurde ein Mädchen mit schwerer Kinderlähmung in die Klinik eingeliefert. Es lag bereits im Koma. Nach zwei Minuten in der Druckkammer kam es wieder zu sich. Im Mai 1929 wurde die Behandlungsmethode in der medizinischen Fachpresse veröffentlicht und nach Anmeldung des Patents im September der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Journalisten tauften die Druckkammer „Eiserne Lunge“.
Eiserne Lunge und Gynäkologen-Stuhl, Foto: A. Giesswein
In der Folge rettete die Beatmungsmaschine tausenden an Polio Erkrankten das Leben. 1931, als wie-der eine schwere Polioepidemie die Vereinigen Staaten heimsuchte, gingen die Eisernen Lungen in Massenproduktion. Es entstanden riesige Beatmungszentren. Eiserne Lungen füllten während der Epidemien ganze Turnhallen. Manche mussten nur in der kritischen Phase in die eiserne Röhre; andere blieben Monate, Jahre, ja manchmal ihr ganzes Leben in dem eisernen Sarg. Einen traurigen Rekord stellte die Australierin June Middleton auf, die wenige Tage vor ihrer Hochzeit 1949 an Kinderlähmung erkrankte. Sie verbrachte 60 Jahre in der Eisernen Lunge und starb am 30. Oktober 2009 im Alter von 83 Jahren.
1948 konnte man den Poliovirus isolieren. 1954 gelang dem US-amerikanischen Immunologen Jonas Salk die Entwicklung eines Impfstoffes mit abgetöteten Viren, der noch injiziert werden musste. In den 60er Jahren entwickelte der US-amerikanische Virologe Albert Sabin einen Lebendimpfstoff, der als Schluckimpfung verabreicht werden konnte, was die Anwendung erleichterte. Die Kinderlähmung ist allerdings noch immer nicht ausgerottet; in den Entwicklungsländern existierten noch vereinzelt kleine Virusherde.

Text: Prof. Dr. Elisabeth Vavra

 #8 Der Februar - ein „heilsamer“ Monat 


Schon in den alten Hochkulturen beschworen Priester im Krankheitsfall Gottheiten durch Gebet und Sühnezeremonien, um den Menschen zu helfen. Sie legten Hände auf, berührten die Leidenden mit Symbolen der Gottheit oder ließen in ihren Tempeln den religiösen Akt des Heilschlafes vollziehen.
Mit der Ausbreitung der christlichen Heilslehre trat an die Stelle des Tempelschlafes der Kirchenschlaf, vor dem die Gläubigen Beichte und Buße ablegten. An die Stelle der antiken Götter traten nun Märtyrer und Bekenner, die im Krankheitsfall angerufen wurden, zu deren Grabstätten man pilgerte und um deren vorbeugenden Segen die Christenheit bat.
Der Monat Februar ist besonders reich an solchen Krankheitspatronen, deren gesamte Zahl nahezu unüberschaubar ist. Er beginnt am 3. Februar mit dem Fest des heiligen Blasius, der vor Halskrankheiten und anderen Übel bewahren soll:

Hl. Blasius - Stift Seitenstetten,
Sammlungen (© IMAREAL)
„Auf die Fürsprache des heiligen Bischofs und Märtyrers Blasius befreie und bewahre Dich der Herr vor Halskrankheiten und anderen Übel“ So formuliert ein Blasius-Segen aus dem 16. Jahrhundert. Die Wortwahl macht deutlich, dass die Heiligen von den Gläubigen „nur“ als Fürsprecher eingesetzt wurden. Der oder die Heilige vollzog das Wunder nicht selbst, sondern er/sie vermittelte die Heilung bzw. bekam durch Gott die Kraft verliehen, eine Heilung und damit ein Wunder zu vollziehen.
Der heilige Blasius gehört zu der Gruppe der frühen, historisch nicht fassbaren und nur in Legenden überlieferten Heiligen. Er soll als angesehener Arzt im 3. Jahrhundert in Armenien gelebt haben. Er wurde Bischof in seiner Heimatstadt Sebaste und wurde während der Christenverfolgungen eingekerkert. Während seines Gefängnisaufenthaltes rettete er durch sein Gebet ein Kind, dem eine Fischgräte im Hals stecken geblieben war, vor dem Erstickungstod. 316 erlitt Blasius auf Befehl des Statthalters das Martyrium. Er wurde enthauptet.
Aus der Legende um die verschluckte Fischgräte leitet sich seine Funktion als Fürsprecher bei Halskrankheiten ab. Als solcher wird er im Orient bereits im 6. Jahrhundert verehrt. Reliquien des Heiligen kamen nach benediktinischer Tradition  über Rom 855 in das auf einer Rheininsel gelegene Kloster Rheinau (Kanton Zürich), das zum Mutterkloster des Benediktinerklosters St. Blasien im Schwarzwald wurde. 972 gelangten Reliquien des Heiligen, darunter sein Kopf, die Arme, ein Bein und Teile des Halses, nach Dubrovnik. So wurde der Heilige zum Patron dieser Stadt. Die heute kostbar gefassten Reliquien sind im Dommuseum zu Dubrovnik zu sehen.
Am 3. Februar wird in den Kirchen mit zwei gekreuzten oder miteinander verflochtenen Kerzen der Blasius-Segen erteilt.

Hl. Agatha - Fresko in der Spitalskirche zu
Waidhofen an der Ybbs (© IMAREAL)

Ebenfalls im 3. Jahrhundert lebte Agatha, deren Fest die katholische und die orthodoxe Kirche am 5. Februar feiert. Sie lebte in Catania auf Sizilien. Als sie die Werbungen des Landpflegers Quintianus nicht erhörte, da sie ihre Jungfräulichkeit als Gott geweihte Jungfrau bewahren wollte, ließ er sie in ein Freudenhaus verschleppen. Als der Aufenthalt dort nichts fruchtete, wurde sie verurteilt und auf vielfältige Weise gemartert. So wurden ihr die Brüste mit Klauen zerfleischt und abgeschnitten; Petrus in Begleitung von Engeln pflegte sie des Nachts im Kerker. Schließlich wurde sie auf glühenden Kohlen verbrannt. Ihr Martyrium machte sie prädestiniert als Helferin bei Brustleiden angerufen zu werden. 
Als ein Jahr nach ihrem Tod der Ätna ausbrach, zog die Bevölkerung von Catania mit dem Schleier der Heiligen gegen den Lavastrom, der die Stadt bedrohte, und er kam zum Stillstand. Die heilige Agatha ist seitdem die Schutzpatronin von Catania, deren Fest mit einer großen Prozession begangen wird. In manchen Gegenden der Schweiz, Süddeutschlands und Österreichs wird Agathenbrot in Form kleiner Brüste gebacken und am 5. Februar oder am Vorabend gesegnet. Es soll vor Fieber und Krankheiten der Brust schützen. Dem Vieh wurde es vor dem Almauftrieb gefüttert. Krumen der Brote wurden in die Ecken der Häuser gestreut, um diese vor Feuer zu schützen. Vor Feuer und Blitzschlag sollten auch am Agathentag geweihte Kerzen bewahren.

Hl. Apollonia, hier gemeinsam mit der
hl. Ottilie dargestellt - Bad Aussee,
Spitalskirche (© IMAREAL)
Die Hilfe der heilige Apollonia, deren Fest am 9. Februar begangen wird, hätten wir alle wohl schon gern in Anspruch genommen, gilt sie doch als Patronin bei Zahnschmerzen. Ihre Lebensgeschichte ist nur in Legendtexten fassbar. In den frühen Legenden zu ihrem Leben wird erzählt, dass sie als angesehene alte Frau in Alexandria lebte, bis sie bei einer Christenverfolgung aufgegriffen wurde. Ihr wurden die Zähne ausgeschlagen und die Kinnlade zertrümmert. Ihre Peiniger drohten ihr den Tod am Scheiterhaufen an, sollte sie nicht dem christlichen Glauben abschwören. Sie aber stürzte sich freiwillig in die Flammen. Spätere Legenden „korrigierten“ ihr Leben und schmückten es weiter aus. Aus der ägyptischen alten Frau wurde eine schöne römische Fürsten- oder Kaisertochter, die trotz zahlreicher Marter und Qualen ihrem Glauben treu blieb. Als schöne junge Frau haben sie auch die Künstler durch die Jahrhunderte dargestellt. Die Attribute, an denen Apollonia leicht zu erkennen ist, sind zumeist eine überdimensionierte Zange und ein oder mehrere Zähne.

Hl. Valentin - Laakirchen,
Pfarrkirche (© IMAREAL)
Noch komplexer gestaltet sich die Legende des letzten Heiligen des Monats Februar, den ich Ihnen hier vorstellen möchte. Sie kennen ihn alle als Patron der Liebenden: Ich spreche vom heiligen Valentin, dessen Fest wir am 14. Februar feiern - sehr zur Freude zahlreicher Geschäftszweige.
In der legendären Überlieferung vermengen sich die Geschichten zweier Personen miteinander: Da gab es einmal angeblich einen Priester Valentin von Rom, der Liebespaare trotz Verbot nach christlichem Ritus traute und sie mit Blumen beschenkte. Wegen der verbotenen Trauungen soll er am 14. Februar 269 hingerichtet worden sein. Dann gibt es noch Valentin von Terni (Umbrien), einen Bischof, der durch Krankenheilungen und seine Freigebigkeit zahlreiche Römer und Römerinnen zum christlichen Glauben bekehrte. Er erlitt 268 den Märtyrertod. Von ihm wird in der Legende berichtet, dass er eines Wintertages einem Armen seinen Mantel schenkte. Am selben Tag brachte ihm der Jüngling den Mantel mit den Worten zurück: „Hier ist das Kleidungsstück, mit dem du Christus selbst beschenkt hast. Als Lohn dafür sollst Du die Gabe haben, Gichtkranke und Fallsüchtige von ihrer Krankheit zu heilen.“
Das Mantel-Motiv kommt Ihnen sicher bekannt vor, wir kennen es auch aus der Lebensbeschreibung des heiligen Martin von Tours. Bei Valentin wird die Mantelspende allerdings mit der Gabe belohnt, Gichtkranke und Fallsüchtige - damit sind Epileptiker gemeint - zu heilen. So wird Valentin zu deren Patron. Und hier vermischt sich seine Legende mit dem Leben eines dritten Heiligen, mit dem des heiligen Valentin von Rätien, dessen Fest die Kirche am 7. Jänner im deutschsprachigen Gebiet begeht. Er war einer der ersten Bischöfe von Passau und wurde ebenso bei Epilepsie, Krämpfe und Gicht angerufen. Sehr oft können wir bei bildlichen Darstellungen des Heiligen nicht entscheiden, ob es sich jetzt um den Valentin von Rätien oder den von Terni handelt. Was ja eigentlich auch nebensächlich ist - Hauptsache, er hilft. 

Text: Prof. Dr. Elisabeth Vavra


#7 Warum sollte ein Mensch sterben, in dessen Garten Salbei wächst?


So fragten die Gelehrten an der Schule von Salerno – eine der wichtigsten medizinischen Lehranstalten im Mittelalter – ihre Schüler. Salbei galt seit der Antike als eine der wichtigsten Heilpflanzen.
Sie fragen sich vielleicht, warum ich heute ausgerechnet auf den Salbei zu sprechen komme; daran sind nicht die Halsschmerzen schuld, die viele von uns derzeit quälen, und der Salbeitee, mit dem wir gerade in der Hoffnung auf Besserung gurgeln. Nein – es gibt einen anderen Grund:
 

Salvia officinalis © thinkstock
Der Salbei ist zur Aromapflanze des Jahres 2015 gekürt worden. Seit einigen Jahren wählt  VAGA – die Vereinigung für Aromapflege und gewerbliche Aromapraktiker/innen – eine Pflanze zur Aromapflanze des Jahres. Rund um die jeweilige Duftpflanze wird auch ein  Wettbewerb – „thescenteddrop“  – ausgeschrieben, an dem sich jeder beteiligen kann. Die Preisverleihung des „Duftpflanzenoscars“  findet heuer am 19. September 2015 in Graz statt. Jedes Jahr werden die ungewöhnlichsten und stimmigsten Ideen bzw. Kreationen rund um die Duftpflanze des Jahres ausgewählt. Ausgeschrieben werden Projekte in sechs Kategorien: Wissenschaft, Gesundheit & Forschung, Gewerbe, Kulinarik & Genuss, Kunst & Handwerk, Kultur & Geschichte, Gartenbau & Landwirtschaft. Einreichfrist ist der 30. Juni 2015. Das Projekt „thescenteddrop“, das heuer zum dritten Mal stattfindet, soll u.a. eine Basis für eine interdisziplinäre und überregionale Vernetzung von Menschen und Institutionen, die mit heimischen Kräutern bzw. Duftpflanzen arbeiten, schaffen. Wenn Sie mehr erfahren wollen, dann besuchen Sie die Webseite des Projektes unter http://www.thescenteddrop.eu/.


Salvia sclarea © thinkstock
Schon der Name der Pflanze „Salbei“ deutet auf ihr breites medizinisch-pharmazeutisches Wirkungsspektrum hin: Salbei, lateinisch „salvia“ leitet sich „salvare“ – heilen her.
Die Pflanzengattung Salbei ist auf allen Kontinenten mit Ausnahme der Antarktis und Australiens verbreitet und kommt in zahllosen Arten vor; die Botaniker nehmen bis zu 1100 Arten an. Die für Heilzwecke eingesetzten Arten sind u.a. Salvia officinalis L., Salvia sclarea (Muskateller-Salbei) und Salvia fruticosa (Griechischer Salbei, die besonders reich an wirksamen ätherischen Substanzen sind, die auch für den typischen Geruch und den würzigen Geschmack verantwortlich sind.


Salvia sclarea © thinkstock
Salbei wird in unterschiedlichen Verwendungsformen eingesetzt: als Tee, für Waschungen, als Zusatz für Kosmetika, als Tinktur oder als Öl. Traditionell hat Salbei drei Hauptanwendungsgebiete: Er wird bei Atemwegserkrankungen, bei Probleme im Mund- und Rachenraum (einschließlich der Zahnpflege) sowie bei übermäßigen Schwitzen verwendet. In der Vergangenheit war das Spektrum der Anwendung noch viel größer: 

Blättern wir doch wieder einmal im Kräuterbuch des Leonhart Fuchs von 1543. Hier finden wir im Kapitel XCII den „Echten Salbei“ gemeinsam mit dem „Griechischen Salbei“ abgehandelt:
 

„Salbey würdt von den Griechen genent Elelisphacon, von den Lateinischen Salvia, welchen namen die Apotecker behalten haben. […]
Des Salbey seind zwey geschlecht groß unn klein. Der groß Salbey würt also geheyssen von der grossen und breyten bletter wegen, darumb nennt man ihn auch breyt Salbey. Der klein Salbey hat schmelere unnd kleinere bletter, würt auch spitz Salbey und edler Salbey geheyssen. Man nent ihn auch Creutz Salbey vonn wegen der zweyer angehenckten örlin am styl oder end des blats, welche einem creutz gleich seind.
Der groß Salbey ist ein staud mit vilen ästen und stengeln welche vierecket und weißlecht seind. Seine bletter vergleichen sich ettlicher maß mit den Kütten blettern seind aber lenger herter dicker und rauch runtzlecht wie ein beschaben abgetragen wulle kleyd weißlecht und eines starcken geruchs. Die blumen seind purpurbraun mit weiß vermischt, gekrümpt wie ein Adler schnabel. So dise abfallen bringt er in den heüßlin oder secklin same dem Scharlach [Wiesensalbei, Muskateller-Salbei] gleich. Der klein Salbey ist dem vordrigen gleich, aber seine bletter seind schmeler kleiner und weisser oder mehr äschenfarb und haben am styl unden zwey kleine angehenckte örlin, die man am grossen nit findt.
Salbey wechst gern an rauhen orten, doch beyderley geschlecht pflantzt man in allen gärten.
Salbey blüet im Brachmonat [Juni] und Hewmonat [August] und bringt auch zu seiner zeit den samen. 


Salbey wermet und zeücht [zieht] zusamen.
Salbeyen bletter in wasser gesotten und getruncken treiben den harn, bringen den frawen ihre zeit unnd treiben auß die todten frucht. Mit disem wasser gezwagen [gewaschen] macht schwartz har. Salbey ist auch gut zu allerley wunden, seubert dieselbigen und heylet sie. Salbey stillet das blut, so auß den wunden laufft, darüber gelegt. Die bletter und äst in wein gesotten und darmit gewäschen vertreiben das jucken an den gemechten [Hoden und Penis]. Salbey übergelegt heylet die bissz der gifftigen Thiern. Salbey mit Wermut gesotten und getruncken heylet die rot rhur. Salbey übergelegt zeücht die würm auß den ohren [Ohrwurm bedeutet Ohrenschmerzen]. Die bletter in wasser gesotten vertreiben den husten und die weetagen der seiten. Salbey ist gut der verstopfften leber.“
 

Salvia officinalis © thinkstock
Gerade im Mittelalter waren die Anwendungsweisen des Salbeis auch oft mit abergläubischen Praktiken verbunden. So lautet etwa ein Rezept gegen Fieber in einer Handschrift aus dem 15. Jahrhundert: „Nym 3 salvaypletter auff ainem stengel ains morgens vor der sunnen vnd schreyb auff das ain blatt † pater † pax, auff das ander plat † filius † vita, auff das dryt plat schreyb † spiritus † sanctus sit tibe contra febrem remedium amen. Das tue drey morgen vor der sunnen vnd alle male so nym 3 pletter, dor noch so sprich funff pater noster vnd funff ave maria vnd ain glauben.“

Salbeiblätter wurden auch für Liebeszauber verwendet: „nimm drei Salbeiblätter und schreib auf das erste Adam Eva, auf das andere Jesus Maria, auf das dritte deinen und ihren Namen. Brenn diese Blätter zu Pulver und bringe dies der Person beim Essen oder Trinken bei.“    

Nun, vielleicht sollte man sich einer solchen Rezeptur bei einem Essen am kommenden Valentinstag bedienen; wer weiß, vielleicht wirkt der Liebeszauber noch heute. Und Salbei ist ja auch in der Küche ein unverzichtbares Gewürz!

Text: Prof. Dr. Elisabeth Vavra

#6 Die Küchenzwiebel - die Heilpflanze des Jahres 2015


Zwiebel © thinkstock
Wenn der Hals kratzt und der Hustenreiz nicht weichen will, dann werden in vielen Haushalten alte Hausmittel ausprobiert; eines davon war bei mir zuhause immer „Zwiebelmilch“. Dazu wurde eine Zwiebel geschält und geviertelt, Milch erhitzt und die Zwiebelstückchen darin für 30 Minuten eingelegt; dann wurde die Zwiebel entfernt und die Milch mit Honig gesüßt. Allein der Gedanke, diese Milch trinken zu müssen, hat bei mir oft eine Schnellheilung bewirkt.

Die Küchenzwiebel – Allium cepa L. – spielt nicht nur in den Kochtöpfen als Gewürz oder Gemüse eine wichtige Rolle. Sie ist überdies reich an medizinisch wirksamen Inhaltsstoffen: Sie wirkt antibakteriell, senkt den Blutdruck, den Blutzucker und verbessert die Blutfette; sie macht das Blut dünnflüssiger und wirkt antiasthmatisch. Äußerlich kann man ihren Saft gegen Insektenstichen und Furunkeln anwenden. Umschläge mit gehackter Zwiebel wirken auch sehr gut bei Blutergüssen. 
Diese vielfältige Wirkweise ist sicher ein Grund dafür, dass der „Verband der Heilkräuterfreunde Deutschlands“ gemeinsam mit dem „Verein zur Förderung der naturgemäßen Heilweise nach Theophrastus Bombastus von Hohenheim“ die Küchenzwiebel zur Heilpflanze des Jahres 2015 wählte.


Wo die Vorfahren der Küchenzwiebel beheimatet waren, wissen wir nicht genau. Man nimmt Mittelasien oder Afghanistan an; die nächste Verwandte unserer Küchenzwiebel wächst heute in Turkmenistan und im Iran. Seit mehr als 5.000 Jahren wird die Küchenzwiebel als Heil-, Gewürz- und Gemüsepflanze kultiviert. Sie ist damit eine der ältesten Kulturpflanzen der Menschheit. Mit Zwiebeln wurden die Arbeiter beim Pyramidenbau in Ägypten bezahlt; Zwiebeln gab man den Toten auf die Reise ins Jenseits mit; so fanden sich Zwiebel im Grab Tutanchamuns. Beim Auszug aus Ägypten beklagten die Israeliten ihre Entbehrungen, sie sehnten sich nicht nur nach den Fleischtöpfen Ägyptens, sondern auch nach „Gurken und Melonen, Lauch, Zwiebeln und Knoblauch“ (4 Moses 11). Auch bei den Römern waren Zwiebeln bei der einfachen Bevölkerung ein Grundnahrungsmittel. Römische Legionäre sorgten für ihre Verbreitung in Mitteleuropa. Ab nun fehlten Zwiebeln in keinem Koch- und Arzneibuch mehr.
Im ältesten erhaltenen Buch der Klostermedizin – im Lorscher Arzneibuch, um 795 in lateinischer Sprache im Kloster Lorsch bei Worms niedergeschrieben  – werden Zwiebeln als Heilmittel „gegen die Fäulnis des Mundes, der Zunge und des Gaumens sowie zur Behandlung von Zahnfleisch, welches vom Leibessaft zerfressen wird“ eingesetzt; man verwendet sie äußerlich gegen Knoten und Schmerzen in den Brüsten. Gegen Furunkel und Karbunkel legte man Zwiebeln, die man vorher in Asche geröstet und mit Honig vermischt hatte, als Pflaster auf die betroffene Stelle auf.
Ausführlich beschäftigen sich die Kräuterbücher der frühen Neuzeit mit der Zwiebel: lassen wir wieder einmal Leonhart Fuchs mit seinem 1543 erschienenen Kräuterbuch zu Wort kommen:


Zwiebel © thinkstock
„Es seind vil geschlecht der Zwibel / welche alle Theophrastus unnd Plinius erzelen / on not hie vil darvon zu schreiben. Die Zwibel aber so in unsern landen wachsen seind ettlich groß / ettlich klein / an der farb ettlich rot / ettlich weiß / ettlich rund / die andern lang. Die besten aber seind die runden und von farben rot.
Die Zwibel haben bletter fast wie der Lauch / inwendig hol / jre stengel oder rhör seind rund / die gewinnen an den gipffeln runde köpfflin mit dünnen weissen heütlin überzogen / die brechen mit der zeit auff / unn kriechen die bleychweisse gestirnte blümlin vil neben einander getrungen herfür. Sölch blümlin werden zu kleinen knöpfflin oder böllin / in deren yedem seind zwey oder drey schwartz eckete körnlin verschlossen. Die wurtzel ist rund wie ein kleins köpfflin / auß vilen dünnen schelfen oder heütlin zusamen gesetzt / die aller außwendigsten aber seind gantz zart unnd rotlecht. An disem köpfflin hangen zu öberst kleine weisse zaseln wie das har. […]

Die krafft und würckung.
Die langen Zwibel seind scherpffer dann die runden / die roten mehr dann die weissen / die dürren dann die grünen / die rowen dann die gesotten. Doch beissen allerley Zwibel / machen bläst / oder wind / reytzen zu essen / zerteylen / machen durst / und reynigen. Sie lindern den stulgang. So man sie schelet unnd in öl legt / darnach zäpfflin darauß macht / und in den affter thut / so eröffnens die gulden oder rosen ader. Der safft vonn Zwibeln außgetruckt / mit hönig vermischt und in die augen gethon / macht lautere augen / vertreibt die fäl / und den anfang des starns. Er bringt den frawen jre kranckheyt in die weiblich scham gethon. Reyniget das haupt in die nasen gethon. Zwibel safft mit saltz / rauten / und hönig vermischt / ein pflaster darauß gemacht und übergelegt / ist ein köstlich artzney zu den wunden / so von unsinnigen hunden seind gebissen. Der safft mit essig vermengt / und an der sonnen angestrichen / vertreibt die weissen unnd schwartzen masen am leib. Gedachter safft mit hennen schmaltz vermischt / ist nützlich denen so die schuch getruckt haben / ein sälblin darauß gemacht. Der safft in die ohren gethon / bringt das gehör / und nimpt das sausen im kopff. Er macht das har widerumb wachsen / so man das haupt darmit reibt. Der Zwibel so er zuvil würt in der speiß gebraucht / macht er weetagen des haupts. So er wol gesotten ist / treibt er den harn. In den kranckheyten zuvil gessen / auch gesotten / bringt er mit sich ein starcken schlaff. Mit kleinen weinbeerlin und feigen zerstossen und übergelegt / zeitiget er / und bricht die geschwär. Der Zwibel zerteylt die groben zähen flüß im leib.“
(zitiert nach: http://www.waimann.de/capitel/163.html#Abb_241)
Zwiebel © thinkstock
Kehren wir noch einmal zur Kultivierung der Gemüsezwiebel zurück: Die Zwiebel liebt lockere, leichte Böden; ideale Verhältnisse für ihr Gedeihen finden sich in der Region rund um Laa an der Thaya, wo eines ihrer traditionellen Hauptanbaugebiet in Österreich liegt. Im Gegensatz zur Massenproduktion in anderen Gegenden Europas wird die Gelbe und Rote Laaer Zwiebel hier nicht bewässert und reift natürlich am Feld ab. Der Ertrag der Felder ist dadurch zwar geringer, die geschmackliche Qualität der Zwiebeln aber um vieles besser. Ebenso positiv wirkt sich das auf ihre Lagerfähigkeit aus. Die Küchenzwiebel und die etwas größere Gemüsezwiebel wurden in das „Register der Traditionellen Lebensmittel“ aufgenommen und die Region um Laa ist als „Laaer Zwiebel“ unter den Genussregionen Österreichs registriert (http://www.genuss-region.at/genussregionen/niederoesterreich/laaer-zwiebel/index.html).


Text: Prof. Dr. Elisabeth Vavra

#5 Das Johanniskraut – die Arzneipflanze des Jahres 2015



Seit den 90er Jahren wählt der Studienkreis „Entwicklungsgeschichte der Arzneipflanzenkunde“ an der Universität Würzburg, dem Medizinhistoriker, Ärzte, Apotheker und Biologen angehören, die „Arzneipflanze des Jahres“. Für 2015 kürten sie das Echte Johanniskraut.
Johanniskraut, Bild: thinkstock, Alex Rath
Die Gattung der Johanniskräuter ist äußerst vielfältig und umfasst weltweit mehr als 450 Arten. In unseren Regionen kommen bis zu neun verschiedene Arten nebeneinander vor. Das „Echte Johanniskraut“ erkennt man u.a. an seinem zweikantigen Stängel. Sind schon Knospen oder Blüten vorhanden, dann hilft ein weiteres Erkennungsmerkmal: Zerreibt man die Blütenblätter, so färbt der austretende Saft die Finger rot. Die Pflanze findet man an Weg- und Wiesenrändern; sie wird bis zu 90 cm hoch.
Den Namen Johanniskraut trägt die Pflanze, weil sich in der Zeit rund um das Fest Johannes' des Täufers am 24. Juni je nach Witterung die Knospen zeigen oder sich bereits die gelben Blüten öffnen. Das ist dann der Beginn für die Sammelzeit der Knospen und Blüten. Seit der Antike trägt die Gattung der Johanniskräuter den Namen „Hypericum“. Das Echte Johanniskraut heißt mit lateinischen Namen Hypericum perforatum, was auf eine weitere Eigenart der Pflanze verweist: Betrachtet man die Blätter gegen das Licht, so erblickt man zahlreiche kleine Punkte, die den Anschein erwecken, als seien die Blätter fein durchstoßen. Bei den Pünktchen handelt es sich um Öldrüsen, die einen der Wirkstoffe der Pflanze, das Hypericin, enthalten.

Johanniskraut, Bild: thinkstock
Die Beliebtheit der Pflanze und ihre vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten spiegeln sich im Variantenreichtum der Bezeichnungen im Volksmund, der das Kräutlein u.a. als Antoniuskraut, Blutkraut, Brustkraut, Donnerkraut, Eisenhart, Feldhopfenkraut, Feuerkraut, Fieberkraut, Frauenkraut, Gottesblut, Hanskraut, Hanskräutel, Hasenkraut, Herrgotsblume, Herrgotsträne, Herrgottsblut, Herrgottskraut, Hexenkraut, Jesuwunderkraut, Johannesbettstroh, Johannisblut, Johannishartheu, Johannisschweiß, Kälberkraut, Kleine Johannisblume, Kranzkraut, Leibwehblume, Liebeskraut, Löcherkraut, Marienkraut, Mariens Bettstroh, Muttergotteskraut, Siebenundsiebziglöcherkraut, Sonnenwendkraut, Tausendloch, Tausendlöcherkraut, Teufelsfluch, Teufelsflucht, Teufelskraut, Tüpfelhartheu, Unseres Herrn Wundkraut, Waldhopfenkraut, Walpurgiskraut, Wundstroh oder Wurmgras bezeichnet.

Seit der Antike schätzte man die Vielfalt der Anwendungsgebiete des Krautes bei der Behandlung von Krankheiten. So empfahl der griechische Arzt Dioskurides, der im 1. Jahrhundert n. Chr. als Militärarzt im Dienste der Römer stand und mit seinem Werk „Materia Medica“ zum berühmtesten Pharmakologen des Altertums wurde, das Kraut als Umschlag gegen Brandwunden und die reife Frucht des Krautes, in Honigwasser eingelegt, gegen Ischias. 

Johanniskraut, Bild: thinkstock
Paracelsus (geb. um 1493-1541) widmete dem Echten Johanniskraut eine ausführliche Erläuterung, in der er dessen Wirkung nicht nur als Wundheilmittel, sondern auch als Vertreiber der Melancholie – und als Wurmmittel pries.
Eines der ausführlichsten und originellsten Kräuterbücher des 16. Jahrhunderts stammt aus der Feder des Botanikers und Mediziners Tabernaemontanus – eigentlich Jacobus Theodorus  (1522/5-1590); sein Name „Tabernaemontanus“ ist eine latinisierte Form seines Geburtsortes Bergzabern in Rheinland-Pfalz. Tabernaemontanus war zunächst als Kräutersammler in Weißenburg im Elsass tätig; dann studierte er Medizin in Padua und Montpellier. Nach seiner Rückkehr betrieb er in Weißenburg eine Apotheke. Für seine weitere Laufbahn war die Begegnung mit dem Botaniker Hieronymus Bock maßgeblich. 1588 erschien sein „Neuw Kreuterbuch“ im Druck, ein Werk mit fast 1600 Seiten und mehr als 2000 Holzschnitten.
In den Texten zu den einzelnen Pflanzen beschreibt Tabernaemontanus diese nicht nur genau aus botanischer Sicht, sondern sammelt auch das Wissen um ihre Wirkweise und greift dabei auf vergangene Autoritäten zurück. Zum Johanniskraut zitiert er etwa Dioskurides und den flämischen Botaniker und Arzt Rembert Dodoens, genannt Dodonaeus (1516/17-1585). Dann geht er auf die Wirkung bei innerer und äußerer Anwendung des Krautes ein: Siedet man das Kraut in Wein, so besitzt es harntreibende Wirkung, hilft bei Blasensteinen, wie die antiken Autoritäten berichten, und bei Menstruationsbeschwerden. Der so gewonnene Saft dient auch als Mittel gegen das dreitägige Fieber. Äußerlich angewendet beschleunigt es die Wundheilung und wirkt gegen Entzündungen. Frauen, die in Kindsnöten liegen, sollen mit dem Kraut beräuchert werden, deshalb wird das Johanniskraut auch Frauenkraut genannt. Im Anschluss beschreibt Tabernaemontanus die Herstellung von Johanneskrautwasser und Johanniskrautöl. 


Johanniskraut, Bild: thinkstock
Beide Mittel empfiehlt er bei Schlaganfall, roter Ruhr, bei Koliken und Verdauungsbeschwerden jeglicher Art. Er empfiehlt auch die Verwendung des Johanneskrautes als Apotropäum gegen Gespenster und Ungewitter. Hier wird man wohl an eine Anwendung als Räucherkraut denken. Tabernaemontanus folgte in seinen Angaben seinem Lehrer Hieronymus Bock, der in seinem „New Kreuterbuch“ ganz ähnliche Wirkweisen des Krautes beschrieben hatte. 
In den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kräuter- und Arzneibüchern wird die heute bekannte stimmungsaufhellende Wirkung des Johanniskrautes nur selten erwähnt. In Zedlers „Grossem vollständigen Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste“, das in den Jahren 1732 bis 1754 erschien, wird dann das Rezept für eine Tinktur angeführt, deren Grundsubstanz  aus Johanneskraut gewonnen wird und die als Heilmittel gegen Schwermut, Raserei, Tollsucht und allgemein gegen Schwachheit des Geistes angepriesen wird. Dem Johanniskraut werden allerdings bei der Herstellung noch andere Substanzen wie Ackergauchheil (Anagallis arvensis) oder Eselsblut, das aus einer Ader hinter dem Ohr gewonnen wird, hinzufügt; sie alle werden gemeinsam destilliert, das Destillat wird mit Branntwein verdünnt und im Bedarfsfall eingenommen.
- Wohl bekomm’s!


Text: Prof. Dr. Elisabeth Vavra

#4 „Zu was Kranckheiten die distillirten Wasser dienen …“


Diese Überschrift steht nicht im einem Nachschlagewerk, das für einen Mediziner oder einen Apotheker bestimmt war, nein - es steht in dem klassischen Werk der sog. Hausväterliteratur: in der „Georgica curiosa“ des Wolf Helmhardt von Hohberg.

IMAREAL - Krems: In einer landadeligen Apotheke.
Kupferstich aus der "Georgica Curiosa", Nürnberg 1716
Bei dieser „Hausväterliteratur“ handelt es sich um frühe Ratgeber, die ab dem 16. Jahrhundert zunächst vor allem im protestantischen Milieu erschienen. Sie richteten sich an den Landadel als  potentiellen Käufer. Da ihr Inhalt aber von allgemeinem Interesse war, erwarben auch zunehmend bürgerliche Kreise diese Werke.
Den Höhepunkt dieser Gattung bildet das zitierte zweibändige Werk aus der Feder Wolf Helmhardt von Hohberg, das unter dem Titel „Georgica curiosa, Das ist: Umständlicher Bericht und klarer Unterricht Von dem Adelichen Land- und Feld-Leben“ erstmals 1682 in Nürnberg erschien.   
Wolf Helmhardt von Hohberg wurde am 20. Oktober 1612 in Lengenfeld bei Krems geboren. Früh verwaist trat er ins Heer ein und kämpfte im Dreißigjährigen Krieg. 1641 quittierte er den Dienst in einem kaiserlichen Regiment und zog sich auf ein kleines Gut in Süßenbach an der Thaya zurück. Als Protestant musste er später seine Heimat verlassen und ließ sich wie viele seiner Glaubensgenossen in Regensburg nieder, wo er 1688 verstarb.

IMAREAL - Krems: Die Hausmutter beim Zubereiten
von Arzneien. Kupferstich aus der "Georgica Curiosa",
Nürnberg 1716
Der erste Band des Werkes beschäftigt sich mit Haus und Garten, der zweite mit Feld, Vieh, Wald und Jagd. Die insgesamt 12 „Bücher“ geben einen ausführlichen Einblick in Organisation und Tätigkeitsbereiche der auf einem solchen Gut tätigen Personen.
Zu der Arbeit der „Hausmutter“ gehörten nicht nur die Versorgung der Hausangehörigen mit ausreichend Nahrung, die Vorratshaltung, die Betreuung des Gartens und vieles andere mehr, sondern auch die Betreuung im Krankheitsfall. In mehr als 20 Kapitel gibt Hohberg der Hausmutter Anweisungen, wie sie die Apotheke zu führen und Arzneien zuzubereiten hätte.
Dazu gehörte auch die Herstellung von Destillaten aus den unterschiedlichsten Ausgangsprodukten. In Kapitel LVII beschrieb Hohberg ausführlich die Arbeitsgänge und die Beschaffenheit des „Brennofens“, allerdings genüge es, „wann die Haus=Mutter nur weiß mit dem Brennkolben und Balneo Maris [=Wasserbad] umzugehen.“

IMAREAL - Krems: Das Destillieren von Kräutern
Kupferstich aus der "Georgica Curiosa", Nürnberg 1716
Das Anwendungsgebiet dieser destillierten Wasser, die aus Kräutern gewonnen werden, ist äußerst vielfältig; Hohberg führt 28 Verwendungszwecke an: bei Kopfschmerzen etwa Destillate aus Wohlgemuth (Origanum vulgare) oder Holunder; bei Leberbeschwerden Sauerampfer, Ehrenpreis, Wegwarte, Salbei, Brunnenkresse, Leberkraut und Waldmeister; für die Augen gut sind „Wasser“ von Ringelblumen, Augentrost, Schellkraut, Rittersporn, Fenchel, Blaue Kornblume und blaue Veilchen; gegen Blasen- und Nierensteine empfiehlt er u.a. Spitzwegerich, Petersilie, Rettich, Spargel, Steinbrech, Erdbeeren und Gundelreben (Glechoma hederacea). Ein Allheilmittel ist das Kardobenediktenkraut, das u.a. bei Magenproblemen, Gelbsucht, Seitenstechen, Menstruationsbeschwerden oder Vergiftungen empfohlen wird. Ähnlich vielseitig ist auch der Baldrian.

IMAREAL - Krems: Die Hausmutter als Krankenpflegerin
Kupferstich aus der "Georgica Curiosa", Nürnberg 1716
Im ersten Band der „Georgica curiosa“ gibt es auch Anleitungen zur Herstellung von „Krafft=Wasser“, für die unterschiedliche Substanzen in Destillaten und/oder Wein angesetzt werden. Für das „Hertz=Carfunckel=Wasser“ etwa muss man Rosmarin, Maienblümlein, Borrago-Blüten, Märzveilchen, Majoran, Lavendel, Kreuzsalbei und Saudistel in einem bestimmten Mischungsverhältnis fein hacken und im Mörser zerreiben. Dann werden Gewürze und Früchte - Muskat, Ingwer, Gewürznelken, Zimt, Kardamom, Galgant, Wacholderbeeren, Eichen- und Haselmisteln, geschälte Päonienkörner - mit Hirschhorn, Ungarischem Gold, Perlen und dgl. mehr gemischt, fein verrieben und mit Wein zu einer Paste verrührt, aus der man kleine Küglein formt. Dann legt man die Kräuter und die Küglein in einem Krug und gießt darüber Malvasier - in der Neuzeit besonders bekannt und beliebt - und verschiedene Destillate, etwa Erdbeer=Wasser und Rosen=Wasser. Dann wird der Krug verschlossen und im Keller in Sand eingegraben; ein Monat ruht er nun - von Neumond bis zum nächsten Neumond. Dann wird die Brühe abgeseiht, die noch nicht aufgelösten Substanzen fein zerstoßen und mit der  Flüssigkeit vermischt. Die so gewonnene Lösung wird nun gebrannt. Das Destillat ist das „Carfunckel=Wasser“, das bei schwerer Krankheit zur Stärkung verabreicht wird. Die Dosis richtet sich nach der Schwere der Krankheit und dem Alter des Patienten: ein alter Mensch erhält zwei Löffel voll, ein junger nur einen Löffel. Es dient zur allgemeinen Stärkung und soll bei Fraisen, Schlaganfällen, Ohnmachten, Kopfschmerzen und Herzbeschwerden aller Art helfen. Auch Gebärenden und schwachen Säuglingen gibt es Kraft.
Foto: F. Röper


Falls Sie selbst in der „Georgica curiosa“ blättern wollen, ein Digitalisat finden Sie unter http://digital.bibliothek.uni-halle.de/hd/content/titleinfo/363108 auf der Homepage der Universitätsbibliothek in Halle.

Den nächsten Blog können Sie im Neuen Jahr - am 8. Jänner 2015 - lesen. Bis dahin geruhsame Feiertage, in denen Sie hoffentlich weder Arzneien oder Kräuter brauchen, wünschen Ihnen die Autorin und das Team des Landesmuseums Niederösterreich.

Text: Prof. Dr. Elisabeth Vavra




# 3 Pflaster, Salben, Ratafia …


In der Ausstellung zeigen wir u. a. auch das Rezeptbuch eines Baders oder Apothekers, das sich heute im Besitz der Landschaftsapotheke in Mistelbach befindet.
Auf dem ersten Blatt steht in schönster Schrift geschrieben:
 
„Sammlung verschiedener nützlicher Recepten“
und darunter die Jahreszahl „1645“.
 

Angenehm bei diesem Rezeptbuch ist die gut leserliche Schrift des Verfassers, oder war es vielleicht sogar eine Frau, die die Rezepte niedergeschrieben hat? Man könnte fast vermuten, dass es sich um eine „Reinschrift“ handelt, also eine Abschrift älterer Rezepte. Die einzelnen Seiten lassen auch keinen Unterschied in der Schrift erkennen. 
Auf den folgenden 154 Seiten stehen in bunter Mischung die unterschiedlichsten Rezepte für die verschiedensten Anwendungsgebiete. Da gibt es Rezepturen bei Frauenbeschwerden, zur Linderung des Hustens und natürlich auch zur Eindämmung von Fieberanfällen.
 

Mistelbacher Rezeptsammlung
Weichsel-Likör, Foto: thinkstock,
Soyhan Erim
Eine wichtige Aufgabe eines Apothekers in der Vergangenheit war auch die Zubereitung von Destillaten und Likören.
Eine dieser Likörsorten war der Ratafia:
Wie es zu diesem Namen kam, erklärt man in einem der heute noch wichtigen Produktionsgebiete in den Abruzzen so: Anlässlich von Abkommen oder Verträgen, die man schloss, stieß man nach der Unterzeichnung mit Likör auf das gelungene Geschäft an und sprach dabei: „Pax rata fiat“ (freie Übersetzung: "Der Friede sei bestätigt". Die heutigen Produkte, die unter dem Namen „Ratafia“ verkauft werden, sind vollmundige süßliche Liköre mit einem Alkoholgehalt unter 22 Volumprozent. In den Abruzzen wird er heute aus Amarena-Kirschen, Waldfrüchte, Montepulciano Rotwein, Zucker und natürlichen Aromen hergestellt. Die Zusammensetzung zählt zu den bestgehüteten Familiengeheimnissen.
 


In Katalonien wird er aus grünen Walnüssen und Kräutern hergestellt, die 40 Tage in einem Anisschnaps angesetzt werden. In Burgund und der Champagne wird der aus Traubenmost und Weinbrand hergestellt.
 

Weichselblüten, Foto: thinkstock, Anatolii Boida
Das im Mistelbacher Rezeptbuch enthaltene Rezept für Ratafia verwendet ebenfalls Weichseln:
Erstlich nim Weixeln, welche fein sauber von denen Stengeln gezupft seyn müßen, in eine große gläserne Flasche, die einen weiten Hals hat, und thue selbe nicht gar völlig anfüllen mit dem Weixeln, darnach nimt man geschälte bittere Mandeln 8 oder 12 Stück, nachdem die Flasche groß ist, und wirft dieselben gantz hinein, alsdann giese man den Kirschengeist darauf, doch nicht ganz voll, daß man alle Tage die Flaschen umschütteln kann, und muß also 4 Wochen an einen kühlen Ort aufbehalten werden, hernach nimt man einen feinen ausgeleiterten Zuker, und gießt denselben in eine Flasche, darnach man es süß haben will, den Ratafia gießt man durch einen Trüchter der mit Löchern ist, darauf. NB. Den wenn man den Zucker in den Ratafia will giesen, so bleibt er trüb, die Weixeln thut man hernach in ein Einmachglas, allzeit ein paar Lagen, darzwischen, aber einen fein gestosenen Zuker darauf gestreuet, und so viel Lagen bis das Glas voll ist, hernach gieß man einen Kirschengeist darauf, daß er über die Weixeln geht, alsdann kann man es also stehen lassen 2 auch 3 Jahre, so bleiben sie gut, sie müßen aber allzeit an einen kühlen Orte stehen. Wann man diese Weixeln will auf die Schale geben, so muß man dieselben aus den Kirschengeist herausnehmen, und gieß ein wenig geleiterten Zuker darauf, sonsten sind sie gar zu stark, den übrigen Kirschengeist kann man unter Ratafia auch wiederum untermischen.
Bis zum nächsten Mal.
 

Text: Elisabeth Vavra

# 2 Wie die Zunft der Bader entstand



Der Bader, Holzschnitt aus
"Eygentliche Beschreibung
aller Stände auff Erden hoher
und nidriger, geistlicher und
weltlicher, aller Künsten, Hand-
werken und Händeln... (Ständebuch,
mit Versen von Hans Sachs,
1568), Holzschnitt von Jost Amman
(1539 Zürich - 1591 Nürnberg)
Seit dem Spätmittelalter finden wir in Schriftquellen Nachrichten über Badstuben in Niederösterreich: Für 1285 wird eine in Klosterneuburg erwähnt, 1286 in St. Pölten, 1296 in Hainfeld und so fort. Die Badstuben waren meist im Besitz der Grundherren und wurden in Pacht vergeben. Haben sich solche Pachtverträge erhalten, so informieren sie uns häufig nicht nur über die Höhe der abzuliefernden Pacht, sondern erzählen uns auch von den Arbeiten des Baders.

Am 8. September 1470 schloss etwa der Abt des Stiftes Göttweig einen solchen Pachtvertrag mit dem Stiftsbader Hermann Sachs ab. Auf acht Jahre durfte dieser die Badstube in Furth übernehmen. Als Gegenleistung musste er im Konvent alle Arbeiten verrichten, die in das Arbeitsfeld eines Baders gehörten: Rasieren, Zurichten der Bäder und alles, „was sonst in seinem Handbereich fällt“. Schon damals gehörten dazu Aderlassen und Schröpfen, Behandlung von Wunden oder Verabreichen von Salben. Dafür erhielt er einen Jahressold von 5 Pfund Denare.
Dass der Vorgänger nicht gerade zu den Pflichteifrigsten gehörte, zeigt der in der Urkunde beschriebene Zustand der Badstube: Denn Hermann Sachs musste sich auch dazu verpflichten, die Badstube auf seine Kosten neu eindecken zu lassen. Er hatte die Zimmerleute zu verköstigen und die Nägel zu kaufen. Das Stift als Eigentümer sorgte für die Entlohnung der Handwerker und das nötige Holz. 
Im 16. Jahrhundert nahmen die Steuern, die auf den Grundbesitzern lasteten, als Folge der Türkeneinfälle immer mehr zu, und so mancher Grundherr sah sich gezwungen, die Badstube an die Gemeinde oder gleich direkt an den Bader zu verkaufen. Bis zum Ende des 16. Jahrhunderts waren nahezu alle Badstuben in den Besitz der Bader übergegangen. In den Städten konnten sie nun das Bürgerrecht erwerben. Hand in Hand damit eröffnete sich ihnen die Möglichkeit, Zünfte zu bilden und sich so gegen ein Überangebot vor Ort zu schützen. Das Badergewerbe durfte nun nur mehr derjenige ausüben, der im Besitz eines Baderhauses mit Badstube war.

Zunftlade der Bader, vor 1777
Mistelbach, Stadt-Museumsarchiv

Wie bei den anderen Gewerben auch unterlagen die in Städten ansässigen Bader Zunftordnungen, die von der Obrigkeit erlassen und vom Landesherrn bestätigt werden mussten. Die älteste niederösterreichische Ordnung solcher Art hat sich als Abschrift im Stadtbuch von Wiener Neustadt erhalten. Sie wurde am 22. Jänner 1476 unterzeichnet. Die rund 25 Paragraphen umfassen in erster Linie Vorschriften, die den Lebenswandel betrafen. Wer diese Richtlinien übertrat, musste Bußgelder an die Zunftlade abliefern. Bemerkenswert ist, dass in dieser Ordnung ausdrücklich auch Frauen in ihrer Funktion als „Baderinnen“ und als „Dienerinnen“ in den Badstuben Erwähnung finden.
Ganz den Zeitgeist der Gegenreformation spiegelt die für Krems und Stein erlassene neue Baderordnung, die am 9. März 1633 von Kaiser Ferdinand II. unterzeichnet wurde. Die ersten Paragraphen befassen sich mit dem religiösen Leben der Zunftangehörigen und regeln die Teilnahme an der Messfeier. Die nächsten Abschnitte enthalten allgemeine Strafbestimmungen für die Zunftmitglieder und eine detaillierte Regelung der Ausbildung vom Lehrling bis zum Meister.

Aderlassschnepper
Retz, Museum im Bürgerspital
Das für Krems erhaltene Register der Baderzunft aus dem Jahr 1667 dokumentiert den weiten Geltungsbereich. Die Kremser Hauptlade war für das Viertel ober dem Manhartsberg (= Waldviertel) zuständig und umfasste zu dieser Zeit insgesamt 96 Ortschaften. Rechnet man zu den Meistern die in den Badstuben tätigen Gesellen sowie die nicht in der Zunft Inkorporierten hinzu, so kommt man immerhin auf etwa 150 Bader bzw. Wundärzte, die die Bevölkerung in der Region medizinisch betreuten. Die Kremser Hauptlade errichtete sog. Viertelladen in Horn, Waidhofen an der Thaya, Weiten und Zwettl. Im Viertel unter dem Manhartsberg (= Weinviertel) gab es sogar zwei Hauptladen, eine in Mistelbach und die andere in Ober-Hollabrunn. 1626 erhielt die Baderzunft in St. Pölten als Sitz der Hauptlade für das Viertel ober dem Wienerwald (= etwa das heutige Mostviertel) ihre Ordnung bestätigt. Für das Viertel unter dem  Wienerwald (= etwa das heutige Industrieviertel) ist zwar keine Baderordnung aus dieser Zeit erhalten; man kann aber wohl annehmen, dass der Sitz der Hauptlade in Wiener Neustadt war. 

Die Reformen Maria Theresias im Gesundheitswesen brachten auch Neuerungen für die Bader: 1746 wurden diese verpflichtet, sich nach ihrer Gesellenzeit an der Medizinischen Fakultät in Wien prüfen zu lassen. Ferner wurde ihnen verboten, Wein über die Gasse auszuschenken und Medikamente zu verkaufen. Man sieht daraus, dass sich das Verhältnis der „Gesundheitsberufen“ zueinander nicht immer reibungslos gestaltete. Bader lagen mit Apothekern im Streit, diese mit akademisch ausgebildeten Ärzten, welche wiederum mit Chirurgen und Wundärzten zankten – aber davon ein anderes Mal.
1773 wurde schließlich der Titel „Bader“ abgeschafft. Damit erlosch die Berufsbezeichnung für ein jahrhundertealtes Gewerbe, dem Hans Sachs 1568 folgende Verse gewidmet hatte:

„Wolher ins Bad Reich unde Arm
Das ist jetzund geheitzet warm
Mit wolschmacker Laug man euch wescht
Denn auff die Oberbanck euch setzt
Erschwitzt, denn werdt Ihr zwagn und gribn
Mit Lassn das ubrig Blut außtriebn
Denn mit dem Wannenbad erfreut
Darnach geschorn und abgefleht.“

In der kommenden Woche blättern wir im Rezeptbuch eines Baders in Mistelbach.

Text: Prof. Dr. Elisabeth Vavra

#1 Wie das Einhorn in die Apotheke kam


In Deutschland gibt es mehr als 100 Apotheken, die das magische Tier Einhorn im Namen führen. In barocken Klosterapotheken recken sie stolz ihre gedrehten Hörner in die Luft. Aber wer sind diese Tiere und warum finden sie sich in Apotheken?
 

Das Einhorn als geheimnisvolles Geschöpf  beschäftigt seit Jahrtausenden Geist und Gemüt des Menschen. Persische Künstler schufen schon im 2. Jahrtausend vor Christi kleine Skulpturen dieses Wesens. Ihr Körper ähnelt dem der Gazellen, aus ihrer Stirn sprießt ein gebogenes, geriffeltes Horn, vergleichbar dem eines Steinbocks. Siegel der Indus-Kultur zwischen 2300 und 1750 vor Christi zeigen einhornartige Tiere. Aus den Gebirgen Indiens kam die Mär vom Einhorn über die Texte der Bibel, über die Dichtungen und Schriften der Griechen und Römer, über dem nahen Orient nach Europa.
 

Einhorn © thinkstock, Marina Yakutsenya
Das Einhorn ist ein scheues und wildes Tier. Die Beschreibungen seiner Gestalt in den Quellen variieren: Bald ist das Tier groß wie ein Berg, bald klein und zierlich, dass es einer Dame als Schoßhündchen dienen konnte. Ähnlich vielfältig wie seine Gestalt ist auch seine Bedeutung, die ihm durch das Christentum zugeschrieben wird: Mal steht das Einhorn für das Böse, den Tod und den Teufel; bald steht das Fabeltier für Christus selbst,  für dessen Demut. Das Einhorn steht nicht nur für Keuschheit; genauso kann es Sinnbild der hemmungslosen Wollust sein. Daher diente sein pulverisiertes Horn auch als Aphrodisiakum.
Die erste frühchristliche Naturkunde, der „Physiologus“, beschreibt das Einhorn als „kleines Lebewesen, wie ein Böckchen, aber ganz außerordentlich leidenschaftlich.“ Es lässt sich nur durch eine Methode fangen: „Eine reine Jungfrau, fein herausgeputzt, werfen sie [die Jäger] vor es hin, und es springt in ihren Schoß; und die Jungfrau säugt das Lebewesen und bringt es in den Palast zum König.“

Ktesias von Knidos, der griechische Arzt und Megasthenes, der griechische Diplomat, berichteten bereits von der Heilkraft des Horns des Einhorns; Es vertreibe Gifte und heile Krankheiten. Später erzählte der Physiologos über dessen wundersame Wirkung: Kommt das Einhorn zu einer vergifteten Quelle, dann bewegt es sein Horn in Kreuzesform über das Wasser und schon wird die Quelle trinkbar.

Ausstellungseinblick "Bader, Medicus, Primar"
Foto: H. Lackinger, Einhornkopf mit Narwalzahn,
Zwettl 17. Jh. (Stift Zwettl, Stiftsammlung)
Auch Hildegard von Bingen (1098-1179), die große mittelalterliche Gelehrte, nutzte in ihren Rezepten die Heilkraft des Einhorns; allerdings verwendete sie dessen Leber und mischte daraus eine Salbe, die Aussatz heilen sollte. Einen Gürtel aus Einhornleder empfahl sie zur Abwehr von Krankheiten. Den Huf des Einhorns pries sie als Mittel, um mögliches Gift in Speisen und Getränken anzuzeigen: „Sind Speise und Trank vergiftet und sind sie warm, so lässt der Huf sie in dem Gefäß wallen, sind sie kalt, so lässt er sie dampfen. So kann man erkennen, dass sie vergiftet sind.“
Die ersten Hörner dieses geheimnisvollen Tieres kamen zu Beginn des 13. Jahrhunderts über die Handelsrouten aus dem Osten nun tatsächlich nach Europa. Es wurde durch Jahrhunderte zu einem kostbaren Gut, dessen Besitz Fürsten und Reichen vorbehalten blieb. Vorsichtig kratzte man von den gedrehten Hörnern Substanz ab, und mischte dieses Pulver in Salben, Pillen oder Heiltränke. Es sollte bei Vergiftungen helfen, bei Fieber, Pest oder Kinderkrankheiten. Aus Einhorn gefertigte Becher oder Besteck mit Einhorngriffen sollten den Benutzer vor Vergiftung bewahren. 


Ein-Pfund-Münze mit Einhorn rechts,
© thinkstock, Ken Drysdale

In den Inventaren der Reichen und Mächtigen wurden Einhörner und deren Wert vermerkt: 10.000 Pfund war ein solches wert, das 1558 im Inventar der englischen Königin Elizabeth I. verzeichnet wurde. Vier solcher kostbarer Stücke befanden sich im Besitz der Bayreuther Hohenzollern. In Dresden bewahrte man eines im Wert von 100.000 Talern auf. Wurde zu medizinischen Zwecken Pulver abgeschabt oder gar ein Ring davon abgeschnitten, musste immer ein Beauftragter des Fürsten die Aktion überwachen. Selbst Martin Luther nahm auf dem Totenbett noch ein Getränk aus Wein mit Pulver vom Einhorn vermischt als Arznei zu sich. Der hohe Preis und die große Nachfrage riefen natürlich auch die Fälscher auf den Plan, die Kiesel und Kalk fein pulverisierten, mit Seife mischten und als „Einhorn“ verkauften. Auch ein solcher Brei oder Teig begann zu schäumen, kam er mit Flüssigkeit in Berührung.


Ausstellungseinblick "Bader, Medicus, Primar" Foto: F. Röper
Einhornkopf mit Narwalzahn, Zwettl 17. Jh. (Stift Zwettl, Stiftsammlung)
Im 16. Jahrhundert gelangten die Einhörner in die städtischen Apotheken: So führte etwa der Freiburger Arzt und Apotheker Dr. Joachim Schiller das Einhorn in seinem Wappen und ließ es als Relief auf seinem Haus anbringen. Abraham a Santa Clara erwähnte in seinen Predigten eine Apotheke „Zum weißen Einhorn“. Hörner wurden auf Pferdeköpfe montiert und in städtischen oder klösterlichen Apotheken stolz präsentiert.
Narwal © thinkstock, Andreas Meyer
Die Existenz der Einhörner wurde aber nicht von allen als gegeben hingenommen. Nach frühen Zweiflern im Mittelalter nahm die Zahl derer im 16. Jahrhundert weiter zu. Der Streit wurde schriftlich und mündlich von den Kathedern der Hochschulen ausgetragen. Durch den vermehrten Handel mit Grönland und Spitzbergen im 17. Jahrhundert kamen die wunderlich geformten Hörner in immer größerer Zahl nach Europa, stammten sie doch vom Narwal, der im gesamten arktischen Ozean verbreitet war und dessen Stoßzähne an die Küsten der angrenzenden Ländern gespült wurden.
 

Verwendete Literatur: Rüdiger Robert Beer, Einhorn. Fabelwelt und Wirklichkeit, München 1972.
Text: Prof. Dr. Elisabeth Vavra

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen