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17. September 2015

#22 Zur Ader gelassen …

Bis ins 19. Jahrhundert hinein galt Aderlass als das Allerheilmittel: Man wendete ihn bei jedem erdenklichen Krankheitsfall an. Grund dafür war die bis ins 19. Jahrhundert hinein in der Medizin dominierende Viersäftelehre. Die bereits in der Antike entwickelte Theorie erklärte die Körpervorgänge durch das Zusammenspiel der vier Kardinalsäfte des Körpers – Blut, schwarze und gelbe Galle, Schleim. Geraten diese Körpersäfte aus dem Gleichgewicht, entstehen Krankheiten. Um die Krankheit zu bekämpfen, muss das Gleichgewicht zwischen den Säften wieder hergestellt werden. Eine wichtige Rolle spielt dabei das Blut, das seit Galenos (geb. 129 oder 131 in Pergamon, gest. um 199, 201 oder 215 in Rom) als der dominante Saft galt, den man daher besonders kontrollieren musste.
Der Aderlass beim Barbier Holland, Mitte 18. Jh.
Wien, Privatbesitz
Aderlass galt auch als probates Mittel zur Erhaltung der Gesundheit; er war fixer Bestandteil der „Frühjahrskuren“,  bei Epidemien wurde er zur Steigerung der Abwehrkräfte eingesetzt. Selbst in den Klöstern war der Aderlass Teil des streng reglementierten Jahresablaufs: Einige der für das Mittelalter überlieferten Klosterregeln schränken die Zahl der Aderlässe pro Jahr auf vier bis sechs ein. Quellenuntersuchungen zeigen, dass es sich hier um eine Norm handelte, die in der Praxis unterschritten wurde: So unterzog man sich etwa im Stift Klosterneuburg während des Mittelalters nur zwei- bis dreimal im Jahr dieser Prophylaxe.

Aderlassmann Hans von Gersdorff,
Feldbuch der Wundartzney, 1517

Die medizinischen Lehrbücher liefern genaue Angaben darüber, an welcher Stelle des Körpers zur Ader gelassen werden sollte. Man stellte Beziehungen zwischen Adern und den jeweiligen Körperteilen her: Bei Gicht empfahl man z. B. die Vena basilica und die Vena saphena magna an beiden Füßen, bei Wassersucht die „Leberader“ des rechten Armes usw. Beim Aderlassen sollte man die Konstitution und das Alter des Kranken berücksichtigen. Weiter war es wichtig, den richtigen Zeitpunkt zu wählen: Tage das Voll- und Neumondes sollte man meiden, so der deutsche Wundarzt Hans von Gersdorff (geb. um 1455, gest. 1529). Die besten Tage im Jahr waren zu Martin, Blasius, Philippus und Bartholomäus. Im Frühling und Sommer sollte man Adern auf der rechten Seite, im Herbst und Winter auf der linken Seite wählen. An bestimmten Tagen sollte man keinesfalls zur Ader lassen: Hans von Gersdorff führte dreizehn solcher Tage an; wurde man an diesen zur Ader gelassen, so führte dies zum Tod oder zumindest zu schwerer Krankheit. Auch die Sternzeichen hatten Einfluss auf den menschlichen Körper und seine Erkrankungen: das Sternzeichen des Widders war gefährlich für das Haupt, der Stier für Augen, Hals und Gurgel, die Zwillinge für Schultern und Hände, der Krebs für Brust und Lunge, der Löwe für den Magen, die Jungfrau für die Leber, die Eingeweide und den Bauch, die Waage für die Nieren und die Blase, der Skorpion für die „heimlichen Glieder“ usw. Solche Angaben waren auch fixer Bestandteil der seit Erfindung des Buchdrucks in großer Zahl erscheinenden Kalender; manche Druckereien brachten eigene „Aderlasskalender“ oder sog. „Aderlassmännlein“ auf den Markt.

Der bereits bekannte Kardinal Ernst Adalbert von Harrach bevorzugte für den vorbeugenden Aderlass die Monate Mai und Juni: „Der cardinal hatt heint sein früelings aderlaß verrichtet, und ist Gott lob gar woll abgangen, …“ (Pfütsch, S. 36). Der Aderlass war für den Kardinal ein wichtiges Mittel der Vorbeugung, aber nicht nur für ihn. Zum 7. Mai 1645 vermerkte er in seinen Tagzetteln: „Es gehet jetzundt das purgiren und aderlaßen haufenweiß nach der rey herumb, und ist woll vonnöten das sich die leüth zeitlich vorsehen damit sie nicht khranckh werden, dan man stirbt jetzt gar zu geschwindt dahin, wie dan heint der jung von Khuefstain an einer hizigen khranckheit auch darauf gangen ist …“ (Ebd.).

Aderlassschnepper, Museum Retz im Bürgerspital
Foto: Peter Boettcher
Fühlte man sich nicht wohl, befürchtete man den Ausbruch einer Krankheit, so setzte man den Aderlass ein in der Hoffnung, die Selbstheilungskräfte des Körpers anzuregen; so berichtet der Kardinal: „Herr Ott Fridrich hatt wider nicht guetts geschlafen. Heint frühe darauf, weill es ihme neülich sowoll bekhommen, hatt man ihme wider auf den füeßen ader gelaßen, doch wenig linderung gespühret, weill ihm umb 4 der schmerzen wider so starckh angetastet, das er darüber ohnmächtig worden, bei allem deme bleibet die pulß unndt der harm immerzue schier auf den formb wie ihn ein gesunder haben khan: Also das wier unß nicht darein zurichten wißen…“ (Pfütsch, S. 37).
Vorgenommen wurde der Aderlass vom Bader oder vom Arzt. Im Gegensatz zum Schröpfen, dem man sich meist in der Badstube unterzog, kam beim Aderlass der Bader oder Arzt in das Privathaus. Er brachte die notwendigen Instrumente mit: eine Binde, zum Stauen des Blutes; den Schnepper oder ein Messerchen zum Anritzen der Vene; ein Becken, zum Auffangen und Messen des abgezapften Blutes etc. Die Angaben, über die Menge des abgegebenen Blutes variieren in den Quellen stark: man erwähnt kleine Mengen wie „sechs Eßlöffel vol bluts“, aber auch ein Quart, ca. 1,5 Liter. Der Patient/die Patientin zog sich für die Therapie in einen ruhigen, abgedunkelten, nur mit Kerzen erhellten  Raum zurück. Im Anschluss an die Prozedur, die bisweilen auch zu Ohnmachtsanfällen führte, verabreichte man dem Patienten/der Patientin eine Mahlzeit zur Stärkung. Handelte es sich um einen prophylaktischen Aderlass, so wurden oft auch kleinere Gaben – als Trost oder aus Bewunderung?– geschenkt.

Kardinal Ernst Adalbert von Harrach überreichte etwa bei einer Einladung zu einem Aderlass-Mahl den Patienten geschliffene Gläser: „Der obriste burggraf und graf von Wirmb seint heint frühe aderlaßer gewesen, der cardinall und herr Carll von Scherfenberg haben ihnen darzue beim eßen gesellschaft gelaistet, und hatt der cardinal einem jeden auß ihnen ein geschnittenes glaß in die aderlaß geschenkhet, deß burgrafen seines mit blüemblein gezieret, und deßen von Wirmb seines mitt alcorzas und dergleichen süeßen wahren, der er gern ißet, umbleget…“(Pfütsch, S. 38).
Aderlassschnepper Museum Retz im Bürgerspital
Foto: Peter Böttcher

Die Quellen zeigen auch deutlich, dass der vorbeugende Aderlass in der frühen Neuzeit ein gesellschaftliches Ereignis darstellte; wie heute bei „Botox-Partys“ versammelten sich mehrere Personen – Frauen und Männer – in einem Privathaushalt, um den Aderlass zu praktizieren: „Wier haben heint 3 aderlaßer im Hauß gehabt, den cardinall, die herzogin, und die freylle Christina, und hatt jedes seinen besonderen balbierer gebraucht, welche ihr ambt alle gar woll verrichtet...“ (Pfütsch, S. 38).  


Quellen:
Robert Jütte, Ärzte, Heiler und Patienten. Medizinischer Alltag in der frühen Neuzeit. München-Zürich 1991.
Robert Jütte, Norm und Praxis in der ‚medikalen Kultur‘ des Mittelalters und der frühen Neuzeit am Beispiel des Aderlasses, in: Norm und Praxis im Alltag des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Wien 1997, S. 97-106.
Pierre Pfütsch, Aderlass, Purgation und Maulbeersaft. Gesundheit und Krankheit bei Ernst Adalbert von Harrach (1598¬–1667) (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 57). Innsbruck-Wien-Bozen 2013. 

Text: Prof. Dr. Elisabeth Vavra

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