Die meisten der uns heute geläufigen Untersuchungsmethoden in einer ärztlichen Praxis waren in der Vergangenheit noch unbekannt. Dazu gehören körperliche Untersuchungen ebenso wie alle Methoden der Labordiagnostik usw. Die Perkussion etwa, das Abklopfen der Körperoberfläche wurde erst 1761 vom Grazer Arzt Joseph Leopold von Auenbrugger 1761 beschrieben. Die Auskultation, das Abhören des Körpers, entwickelte 1816 der französische Arzt René Théophile Hyacinthe Laënnec.
Die ältesten diagnostischen Methoden waren die Pulsdiagnose und die Harnschau. Schon die griechischen Ärzte der Antike wie Diogenes von Apollonia, Hippokrates oder Praxagoras von Kos versuchten anhand einer Untersuchung des Pulses an Hand, Schläfen, Hals, Lenden oder Knie Rückschlüsse auf den Gesundheitszustandes des Patienten zu ziehen.
Die Harnschau war wichtiger Bestandteil des vormodernen medizinischen Alltags. Bis weit ins 18. Jahrhunderts hinein wurde ihre Aussagekraft nicht in Frage gestellt, diente sie als wichtiges Diagnosemittel, um Krankheiten zu erkennen und die notwendigen Therapien einzuleiten. Auch sie geht auf die antiken Autoritäten zurück. Untersucht sollte der Harn nach charakteristischen Veränderungen der Konsistenz, der Farbe und der Beimengungen. Weitere Kriterien waren Harnmenge, Geschmack und Geruch.
Die Harnschau war Inhalt zahlreicher medizinscher Schriften, zunächst im Mittelalter noch Handschriften, dann mit Aufkommen des Buchdrucks Drucke, die sich sowohl an Mediziner wie auch an Laien wendeten. Bei der Konsistenz unterschied man in diesen medizinischen Texten zwischen dickem (grobem) und dünnem Harn und einer Konsistenz, die dazwischen lag und als gesunder Harn galt. Dicker Harn war u.a. an seiner dunkleren Farbe zu erkennen, dünnflüssiger Harn an einer wässrigen. In einem italienischen Harntraktat zog man als Vergleich Weinsorten heran: ein dicker Harn sei dem Paduaner Wein ähnlich, ein dünner einem Wein von wässriger Substanz.
Die Harntraktate enthielten sog. Harnfarbenkreise, die der Klassifizierung der Harnfarben dienten. Die Farbbezeichnungen folgten einem durch Jahrhunderte standardisierten Kanon. Das Farbspektrum reichte von Weiß bis Schwarz. Um die Farben für den Benutzer fassbar zu machen, wurden zur Definition der Farben Vergleiche aus dem Alltag herangezogen:
Harn konnte „weiß sein als Wasser; weiß als Milch, da das Schmaltz von gemacht ist; weiß als ein durchsichtiges Horn; bleich als ein Kamels Farb [an diesem Vergleich erkennt man aus welchem Kulturbereich, nämlich dem arabischen, die Schriften gespeist wurden]; bleich als Brüh, so Fleisch halb gekocht ist; bleich als Fleischwasser; gelb als ein bleicher Apfel; gelb als schöne Quitten; roth als bleich Gold; roth als schön Gold; roth als liechter Saffran; roth als satter Saffran; roth als Flamme des Feuers; Leberfarb; eine Farb als dicker rother Wein; grün als Krautsaft; grau als Bley; Schwartzfarb als ein Dinten; schwartz als ein Horn.“
Die Farben in den zeitgenössischen Harnfarbentafeln variieren stark. Bei den Handschriften gab es ja für den, der die Kolorierung durchführte, vermutlich in den meisten Fällen wenigstens eine direkte Vorlage, an der er sich halten konnte. Anders lief es bei den Drucken. Hier wurde sehr frei koloriert. Oft stimmen die verwendeten Farben überhaupt nicht mit den im Text beschriebenen Farben überein.
Die dritte Untersuchung des Harns galt den Beimengungen. Dabei war nicht nur die Konsistenz dieser Beimengungen wichtig, sondern auch deren Lokalisierung im Harnglas. Man unterschied drei Zonen: Beimengungen, die an der Oberfläche sich sammelten, solche, die auf den Boden des Glases absanken, und solche, die in der Flüssigkeit schwebten. Manche Autoren reihten in ihrer Interpretation die drei Abschnitte des Glases den mutmaßlich betroffenen Körperregionen zu: Beimengungen, die an der Oberfläche schwammen, deuteten auf eine Erkrankung des Kopfes, solche in der Mitte des Glasbereiches auf Probleme mit dem Brustbereich und das Sediment am Glasboden auf Erkrankungen im Bereich unterhalb der Rippen. Schaumbildung z. B. wurde als unzureichende Verdauung interpretiert. Bleifarbene Wolken im Harn galten als Hinweis auf Schwindsucht, grünliche oder gelbliche Wolken als Hinweis auf Galle.
Besonders wichtig für eine präzise und verlässliche Harndiagnose war der richtige Umgang mit dem Harn. Der Harn musste zur richtigen Zeit gewonnen werden: Es sollte der erste Harn gleich am frühen Morgen sein. Kranke sollten den gesamten Harn abgeben. Wichtig war auch, jegliche Verunreinigung zu vermeiden. Das Harngefäß, mit dem man dem Harn zum Arzt brachte, sollte aus durchsichtigem Glas sein, da man das Umleeren des Harns in ein geeignetes Glas erst in der Praxis vermeiden sollte. Als Form des Glases empfahl man ein bauchig ausgeweitetes Gefäß, das in seiner Form der Harnblase ähnelte. Bei der Harnschau sollte das Glas gegen das Licht oder gegen eine helle Wand gehalten werden. Durch schräges Halten und langsam kreisenden Bewegungen ließen sich am besten die Ablagerungen im Harn beurteilen.
In vielen Fällen kam der Harnbeschauer mit dem betroffenen Kranken nicht einmal in persönlichen Kontakt. Der Harn wurde zur Untersuchung vorbeigebracht und mit meist nur sehr spärlichen Informationen zum Zustand des Kranken überreicht. Diese Praxis löste in der frühen Neuzeit zunehmend ein Unbehagen bei den ärztlichen Autoren aus. Empfahlen sie doch den Ärzten einen persönlichen Krankenbesuch und eine ausführliche Befragung desselben – das, was wir heute als Anamnese bezeichnen.
Ganz verschwand die Harnschau nie. Als sie mehr und mehr aus den Praxen der Ärzte verdrängt wurde, boten Quacksalber, Naturheiler u.a., die schon davor den Medizinern auf diesem Gebiet Konkurrenz gemacht hatten, weiter diese Dienste an. So praktizierte in Rachling bei Stainz bis zu seinem Tod 1935 der Wunderdoktor „Höllerhansl“, zu dem die Menschen von weit her pilgerten, um ihren Harn beschauen zu lassen. Der Zug der schmalspurigen Lokalbahn, mit dem die Patienten von Stainz nach Rachling kamen, hieß im Volksmund der „Flascherlzug.“
Lit.: Michael Stolberg, Die Harnschau. Eine Kultur- und Alltagsgeschichte. Köln 2009.
Text: Prof. Dr. Elisabeth Vavra
Arzt führt eine Harnbeschau durch Holzschnitt aus: Francesco Petrarca, Von der Artzney bayder Glück, Augsburg 1532 (© Privatbesitz) |
Die Harnschau war wichtiger Bestandteil des vormodernen medizinischen Alltags. Bis weit ins 18. Jahrhunderts hinein wurde ihre Aussagekraft nicht in Frage gestellt, diente sie als wichtiges Diagnosemittel, um Krankheiten zu erkennen und die notwendigen Therapien einzuleiten. Auch sie geht auf die antiken Autoritäten zurück. Untersucht sollte der Harn nach charakteristischen Veränderungen der Konsistenz, der Farbe und der Beimengungen. Weitere Kriterien waren Harnmenge, Geschmack und Geruch.
Die Harnschau war Inhalt zahlreicher medizinscher Schriften, zunächst im Mittelalter noch Handschriften, dann mit Aufkommen des Buchdrucks Drucke, die sich sowohl an Mediziner wie auch an Laien wendeten. Bei der Konsistenz unterschied man in diesen medizinischen Texten zwischen dickem (grobem) und dünnem Harn und einer Konsistenz, die dazwischen lag und als gesunder Harn galt. Dicker Harn war u.a. an seiner dunkleren Farbe zu erkennen, dünnflüssiger Harn an einer wässrigen. In einem italienischen Harntraktat zog man als Vergleich Weinsorten heran: ein dicker Harn sei dem Paduaner Wein ähnlich, ein dünner einem Wein von wässriger Substanz.
Ausstellungsansicht: unterschiedliche Harnfarben (© Landesmuseum Niederösterreich, Foto: C. Hauer) |
Die Harntraktate enthielten sog. Harnfarbenkreise, die der Klassifizierung der Harnfarben dienten. Die Farbbezeichnungen folgten einem durch Jahrhunderte standardisierten Kanon. Das Farbspektrum reichte von Weiß bis Schwarz. Um die Farben für den Benutzer fassbar zu machen, wurden zur Definition der Farben Vergleiche aus dem Alltag herangezogen:
Harn konnte „weiß sein als Wasser; weiß als Milch, da das Schmaltz von gemacht ist; weiß als ein durchsichtiges Horn; bleich als ein Kamels Farb [an diesem Vergleich erkennt man aus welchem Kulturbereich, nämlich dem arabischen, die Schriften gespeist wurden]; bleich als Brüh, so Fleisch halb gekocht ist; bleich als Fleischwasser; gelb als ein bleicher Apfel; gelb als schöne Quitten; roth als bleich Gold; roth als schön Gold; roth als liechter Saffran; roth als satter Saffran; roth als Flamme des Feuers; Leberfarb; eine Farb als dicker rother Wein; grün als Krautsaft; grau als Bley; Schwartzfarb als ein Dinten; schwartz als ein Horn.“
Die Farben in den zeitgenössischen Harnfarbentafeln variieren stark. Bei den Handschriften gab es ja für den, der die Kolorierung durchführte, vermutlich in den meisten Fällen wenigstens eine direkte Vorlage, an der er sich halten konnte. Anders lief es bei den Drucken. Hier wurde sehr frei koloriert. Oft stimmen die verwendeten Farben überhaupt nicht mit den im Text beschriebenen Farben überein.
Die dritte Untersuchung des Harns galt den Beimengungen. Dabei war nicht nur die Konsistenz dieser Beimengungen wichtig, sondern auch deren Lokalisierung im Harnglas. Man unterschied drei Zonen: Beimengungen, die an der Oberfläche sich sammelten, solche, die auf den Boden des Glases absanken, und solche, die in der Flüssigkeit schwebten. Manche Autoren reihten in ihrer Interpretation die drei Abschnitte des Glases den mutmaßlich betroffenen Körperregionen zu: Beimengungen, die an der Oberfläche schwammen, deuteten auf eine Erkrankung des Kopfes, solche in der Mitte des Glasbereiches auf Probleme mit dem Brustbereich und das Sediment am Glasboden auf Erkrankungen im Bereich unterhalb der Rippen. Schaumbildung z. B. wurde als unzureichende Verdauung interpretiert. Bleifarbene Wolken im Harn galten als Hinweis auf Schwindsucht, grünliche oder gelbliche Wolken als Hinweis auf Galle.
Der Arztbesuch (Detail) Jan Miense Molenaer (um 1610-1668, Haarlem), um 1668 (© Privatbesitz) |
In vielen Fällen kam der Harnbeschauer mit dem betroffenen Kranken nicht einmal in persönlichen Kontakt. Der Harn wurde zur Untersuchung vorbeigebracht und mit meist nur sehr spärlichen Informationen zum Zustand des Kranken überreicht. Diese Praxis löste in der frühen Neuzeit zunehmend ein Unbehagen bei den ärztlichen Autoren aus. Empfahlen sie doch den Ärzten einen persönlichen Krankenbesuch und eine ausführliche Befragung desselben – das, was wir heute als Anamnese bezeichnen.
Ganz verschwand die Harnschau nie. Als sie mehr und mehr aus den Praxen der Ärzte verdrängt wurde, boten Quacksalber, Naturheiler u.a., die schon davor den Medizinern auf diesem Gebiet Konkurrenz gemacht hatten, weiter diese Dienste an. So praktizierte in Rachling bei Stainz bis zu seinem Tod 1935 der Wunderdoktor „Höllerhansl“, zu dem die Menschen von weit her pilgerten, um ihren Harn beschauen zu lassen. Der Zug der schmalspurigen Lokalbahn, mit dem die Patienten von Stainz nach Rachling kamen, hieß im Volksmund der „Flascherlzug.“
Lit.: Michael Stolberg, Die Harnschau. Eine Kultur- und Alltagsgeschichte. Köln 2009.
Text: Prof. Dr. Elisabeth Vavra
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